Prof. Dr. Julian Petrin entwirft mit seinem Beratungsunternehmen „urbanista“ in Hamburg Zukunfsstrategien für Städte. Ein Gespräch über Innerstadt-Regime, virtuelle Cities und die Machtkonzentration in Metropolen.
Prof. Dr. Julian Petrin gründete 1998 das führende deutsche Stadtplanungsbüro urbanista, spezialisiert auf partizipative Stadtgestaltung und Forschung zur urbanen Zukunft. Er lehrte als Gastprofessor an der Universität Kassel, ist heute Dozent an der ETH Zürich und Professor an der HFT Stuttgart, und berät das Bucerius Lab der ZEIT-Stiftung.
Herr Petrin, Sie arbeiten an der Stadt von übermorgen. Wie sieht denn eine Metropole wie Hamburg und sein Umland in, sagen wir, hundert Jahren aus?
Julian Petrin: Das ist schwer zu sagen. Abhängig von den heute absehbaren Szenarien und ohne zu wissen, welche „schwarzen Schwäne“ noch kommen, würde ich annehmen, dass es weiterhin eine attraktive Stadt Hamburg geben wird mit einem Umland, das eine ganz neue, eigene Rolle übernommen hat. Der ländliche Raum nimmt wie schon seit Jahrzehnten wahrscheinlich Abschied von einem spätindustriellen, früh-postindustriellen Modell hin zu einem neuen Zustand von Gesellschaft. Möglicherweise haben sich dann diese beiden Raumtypen neu austariert. Das wäre so eine Hoffnung.
Über welchen Zeithorizont reden wir, wenn wir über die Stadt von übermorgen reden?
Petrin: Das Übermorgen beginnt da, wo die Werkzeuge von heute nicht mehr greifen. Und das ist sehr unterschiedlich. Wenn wir uns zum Beispiel die Folgen des Ukrainekriegs ansehen, beginnt das Übermorgen heute. Auf andere Themen wie den demografischen Wandel kann man sich länger vorbereiten. Es ist schwer, eine Jahreszahl zu nennen. Wir unterscheiden bei strategischen Entwicklungskonzepten in Politik- und Planungs- Horizonte, wie zum Beispiel für Quartiersentwicklungen, bei denen es um bis zu 15 Jahre geht. Bei noch längerfristigen Konzepten fällt es den meisten Menschen schwer, sich wirklich auf solch einen Pfad einzulassen.
Weil die Vorstellungskraft fehlt?
Petrin: Eher, weil die aktuellen Herausforderungen so präsent sind und es immer um materielle Interessen geht. Wenn die Akteure einer Stadt eine schöne Vision erarbeitet haben, ist das gut, aber in der Umsetzung stößt man dann manchmal auf Strukturen, die sich nicht bewegen wollen oder können.
Weil die Beharrungskräfte enorm sind?
Petrin: Ja, und in Deutschland sind sie in Bezug auf manche Themen besonders stark ausgeprägt, zum Beispiel bei der Mobilitätswende in den Innenstädten: Bei vielen Händlern in der City gibt es zum Beispiel bis heute die Vorstellung, dass die Kunden vor dem Laden parken können. Natürlich müssen wir an jene Menschen denken, die mobilitätseingeschränkt sind oder an die Lieferanten. Aber diese Herausforderungen lassen sich ja auch anders organisieren. Im ländlichen Raum ist das natürlich anders, weil die Leute dort noch sehr stark aufs Auto angewiesen sind.
Entlang welcher Parameter entwickeln Sie Ihre Zukunfts- Strategien?
Petrin: Zum einen gibt es die Umgebungs- konstanten, das sind die globalen Entwicklungen oder auch Konstanten, die sich wahrscheinlich in den nächsten 20 oder 30 Jahren nur schwer ändern lassen, zum Beispiel der Klimawandel. Und dann gibt es die sogenannten Power Shifts, wenn sich also plötzlich – siehe Ukraine-Krieg – Handelsströme verlagern oder neue Standortkonkurrenzen ausbilden. Daneben haben wir es mit eher mitteleuropäischen, bundesdeutschen Variablen zu tun wie zum Beispiel dem demografischen Wandel.
Wirken diese Trends auch in kleinen Städten oder gibt es dort andere Variablen?
Petrin: Die globalen Trends landen auf Umwegen überall, allerdings unterschiedlich. Im Resonanzraum Metropole landet etwas anderes als im Resonanzraum Land. Dazu kommen regionale Eigenheiten. Ein Beispiel: Hamburg hat wegen globaler Handelsverwerfungen derzeit mit der Hafen-Konkurrenz mit Rotterdam und Antwerpen zu kämpfen. Das ist für eine Stadt wie Paderborn nicht von Bedeutung. Aber Migrationsbewegungen in Folge von Klimawandel sind für kleine wie große Städte relevant.
In einer Studie fürs Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, an der Sie maßgeblich mitgewirkt haben, prognostizieren Sie für die Zukunft eine grüne Stadt mit Urban Gardening, Vertical Farming und Platz für bedrohte Flora und Fauna. Kommt das Land zurück in die Stadt?
Petrin: Ich tue mich schwer mit der Stadt-Land-Dichotomie. Es ist zu einfach zu sagen: Auf dem Land ist Natur und Idylle, in der Stadt ist alles steinern und voller Beton. Wenn man schon jetzt außerhalb Deutschlands guckt, werden Städte inzwischen massiv begrünt, vor allem im globalen Süden, etwa in Singapur. Städte entwickeln sich mehr und mehr zum Rückzugsort für Arten. Der ländliche Raum hingegen verliert an vielen Orten seine ökologische Nischenqualität als Folge der Industrialisierung der Landwirtschaft. In vielen Städten haben wir mittlerweile zumindest die Chance auf Biodiversität. Man sagt, dass Stadt- Honig sogar besser als Land-Honig schmecken soll, weil die Blüten-Vielfalt in der Stadt größer ist.
Wird es also künftig wieder eine Landflucht ins Grün der Stadt geben?
Petrin: Viele sehen das ja als Pendelbewegung. In Wahrheit gibt es immer gleichzeitig Urbanisierung, De-Urbanisierung und Sub-Urbanisierung. Von der Urbanisierung und der damit einhergehenden ökonomischen Kraft zum Beispiel haben auch immer die ländlichen Räume im Umland der Städte profitiert. Im Zuge der Verteuerung der Städte haben wir es gerade mit Mietpreis-Verdrängten zu tun, die ins Umland auswandern, was das Leben da aber irgendwann genauso teuer macht wie in den Städten, wodurch Menschen noch weiter rausziehen. Es ist ein fortdauerndes Wechselspiel mit vielen Unbekannten.
Wird dieses fortdauernde Wechselspiel durch die Digitalisierung weiter befeuert?
Petrin: Ja, wahrscheinlich. Das Fluide, das Nicht-mehr-an-einen-Ort-Gebundensein wird für immer mehr Bevölkerungsteile zur Normalität, besonders seit Corona. Wir dürfen aber auch einen ganz großen Teil der Bevölkerung nicht vergessen, der sich seinen Lebensmittelpunkt überhaupt nicht aussuchen kann. Außerdem müssen nicht wenige in einem restriktiven Arbeitsumfeld nach Corona wieder zurück an ihre Arbeitsplätze. Insofern bin ich nicht sicher, ob aus der Ermöglichung von Home-Office ein genereller Trend hin zum Leben auf dem Land wird.
In einem weiten Wurf nach vorne prognostizieren Expert: innen, dass als Spiegelbild zur realen eine virtuelle Stadt entsteht, in der die Menschen ein Parallelleben führen werden. Wird es also zunehmend gleichgültig, wo ich real lebe, wenn ich doch nur in der virtuellen Stadt herumlaufe?
Petrin: Ich bin da skeptisch. Es gibt schon seit dem Ende der 90er Jahre diese Hoffnung, dass die Virtualität uns aus den Zwängen des physischen Lebens befreit. Dabei sind mit der ersten digitalen Revolution reale Orte umso wichtiger geworden, als Materialisierung des Digitalen. Außerdem fürchte ich, dass der neu proklamierte Boom der Virtualität nicht viel zu einer Verbesserung realer Probleme wie Klimawandel und sozialer Schieflagen beitragen wird. Und da frage ich mich schon, was eine virtuelle Stadt zur Lösung dieser Probleme beitragen kann, außer dass sie hilft, Wege zu sparen und Teilhabe auch von Abgehängten zu ermöglichen – was aber letztlich auch eine Teilhabe zweiter Klasse ist, verglichen mit dem Luxus wirklich vor Ort zu sein, wo wichtige Dinge geschehen. Vielleicht wird Lokalität und Nähe in Zukunft plötzlich der wahre Luxus und Thrill sein, weshalb es den Menschen auch künftig nicht egal ist, wo sie ganz real leben und wie sie ihre Umgebung mitgestalten können.
Durch stärkere partizipative Möglichkeiten?
Petrin: Ja, Partizipation bleibt wichtig und wird sich immer weiter entwickeln, als eine Art Labor für unsere Demokratie. Die gemeinsame Verständigung über die Entwicklung der Nachbarschaft ist ja so etwas wie die demokratische Urzelle, weil es um Belange vor Ort geht, deren Auswirkungen man direkt spürt. Da kann man neue demokratische Rituale und Instrumente einüben, etwa ernsthafte Formen von Bürger-Jurys, die über die Entwicklung ihres Umfeldes entscheidend mitbestimmen. Es wird derzeit viel probiert und experimentiert.
Auf einer höheren Demokratie-Ebene gehen Sie davon aus, dass Megastädte künftig Netzwerke bilden und Politik entgegen ihrer Nationalstaaten führen, womit sie zu Akteuren mit globalem Einfluss werden. Was bedeutet das?
Petrin: Zunächst muss man konstatieren, wie schnell solche Szenarien update-würdig sind, wenn man sich die letzten Power-Shifts auf globaler Ebene anguckt. Das zweite ist, dass das ja immer schon so war. In den Städterepubliken konzentrierte sich schon immer Macht, sei es in der Hanse, aber auch in den Städterepubliken des Mittelmeerraums. Heute gibt es globale Finanzzentren, in denen sich ökonomische und damit oft auch politische Macht ballt. Und es wird wahrscheinlich weiter so sein, dass Städte wie London, Singapur und andere Städte eher im globalen Süden viele Entscheidungs- und Kontrollfunktionen vereinen.
Heißt das, dass Nationen künftig Macht verlieren?
Petrin: Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse glaube ich, dass Nationalstaaten immer eine parallele, wichtige Ebene bleiben werden, weil sie in kultureller und fiskalischer Hinsicht ein starker Rahmen sind. Die Verabredung, dass wir innerhalb Deutschlands eine gewisse Umverteilung hin zu gleichen Lebensverhältnissen haben, dass wir uns gemeinsam auch über Metropol-Räume hinweg organisieren, ist noch da. Solch eine historisch kulturelle Note lässt sich nicht einfach ausradieren. In Großbritannien hingegen sehen wir ein starkes Nebeneinander von nationalem Gebilde und Metropole mit der Folge, dass das Gefälle zum Rest des Landes enorm ist.
Auch in Deutschland sehen sich nicht wenige ländliche Regionen abgehängt.
Petrin: Metropolregionen versuchen hierzulande eher, die Balance in die Fläche herzustellen. Aber es gibt natürlich weiterhin auch eine ganze Menge Räume, die gar nicht Teil von solchen Metropolregionen sind. Auf der politischen Ebene gibt es den Imperativ, auch dort für gleichwertige Lebens- und Teilhabechancen – nicht unbedingt Lebensumstände – zu sorgen. Und solange es diesen wichtigen Imperativ gibt, muss man sich um die Daseinsvorsorge als einen wichtigen Schlüssel für gleichwertige Lebenschancen kümmern und darf das nicht dem freien Markt überlassen.
Global sehen wir gerade aber eher den Rückfall in alte Muster.
Petrin: Wir sehen eine Polarisierung. Die Kluft wird immer größer zwischen denen, die Zukunft durch Experimentieren und Zulassen von Ergebnis-Vielfalt probieren wollen und denjenigen, die auf alte Modelle zurückgreifen: Renationalisierung der Ökonomie, Kontrollierbarkeit von Strukturen, klassische Lebensmodelle, Reaktivierung des ländlichen Raums durch staatliche Interventionen. Man tritt die Flucht nach vorne mit dem Blick nach hinten an. Dabei sind diese beiden Lager nicht trennscharf. Es gibt auch die sogenannten Performer, die zwar eine mutige, nachhaltige Politik einfordern, aber natürlich ihren SUV behalten wollen. Das Neue ist mit dem Alten aber nicht zu gewinnen.
DIE FRAGEN STELLTE THOMAS FRIEMEL
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