Im Mittelalter war klar definiert, was Stadt und was Land war. Die Stadt zeichnete sich durch rechtliche Privilegien aus. Dazu gehörten das Selbstverwaltungsrecht, das Marktrecht oder die Freiheit von der Leibeigenschaft. Mit der Stadtmauer gab es auch baulich eine klare Trennung zwischen Stadt und Land. Dieses spezielle Stadtrecht ist bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verschwunden. Der Titel „Stadt“ hat deshalb heute keine rechtliche Bedeutung mehr und ist auch nicht an eine bestimmte Mindesteinwohner*innenzahl gebunden.
Die soziologischen Klassiker haben sich im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Besonderheiten von Stadt und Land beschäftigt. Auf dieser Grundlage entstand das Bild von einem ländlichen Raum, der sich hinsichtlich seiner Siedlungs-, Wirtschafts- und Sozialstruktur klar vom städtischen Raum abgrenzen ließ und als relativ homogen galt. Dieser Raum wurde verbunden mit geringer Bevölkerungsdichte und kleinen Siedlungen, d. h. Dörfern und Weilern. Land- und Forstwirtschaft sowie Bergbau bildeten die wirtschaftliche Basis des ländlichen Raumes.
Schließlich bestand das Bild einer wenig differenzierten ländlichen Gesellschaft im Vergleich zu den Städten mit ihrer stärkeren Arbeitsteilung und verschiedenen Statusgruppen. Dem Leben auf dem Lande wurden im positiven Sinne enge soziale Beziehungen, starke gesellschaftliche Integration anhand traditioneller Werte, Übersichtlichkeit und Vorhersehbarkeit sowie in negativer Hinsicht geringe soziale Mobilität, hohe soziale Kontrolle, geringe Veränderungsbereitschaft und geringe individuelle Freiheit unterstellt.
Dem lagen empirische Arbeiten zugrunde, die niedrigere Einkommen, schlechtere Infrastrukturausstattung und Dienstleistungsangebote sowie die Abwanderung junger und gut qualifizierter Personen in die Verdichtungsräume nachwiesen sowie die Ausbreitung städtischer Lebensformen ins Umland als Modernisierungsprozess interpretierten. Zudem wurde die Abhängigkeit des Landes als Peripherie von den Städten als Zentren betont, was sich in steigenden Pendelzahlen, dem Rückgang des Erwerbstätigenanteils in der Land- und Forstwirtschaft sowie der Verdrängung lokaler handwerklicher Produktion durch industriell gefertigte Waren zeigte, die aufs Land importiert wurden.
All diese Ansätze, die Raumstrukturen als Ursache für bestimmte Sozialstrukturen vermuteten, gelten für die heutige Zeit als widerlegt. Statt dessen wird die Vielfalt ländlicher Räume betont, weshalb auch von den ländlichen Räumen in der Mehrzahl die Rede ist. Die ländlichen Räume unterscheiden sich sowohl hinsichtlich soziokultureller als auch sozio ökonomischer Faktoren. Ein typischer ländlicher Lebensstil oder für die Landbevölkerung typische Werte lassen sich nicht feststellen. Land- und Forstwirtschaft prägen lediglich noch das Landschaftsbild in ländlichen Räumen, haben aber wirtschaftlich kaum noch Bedeutung.
Dieses offene Landschaftsbild bedeutet jedoch nicht, dass Natur ein besonderes Kennzeichen ländlicher Räume wäre. Hier gibt es neben naturnahen Flächen, z. B. in Naturschutzgebieten oder Naturparks, intensiv genutzte landwirtschaftliche Flächen oder von der Energiewende geprägte Landschaften. Schließlich haben sich die Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land weitgehend angeglichen. Hinsichtlich vieler wirtschaftlicher, sozialer oder infrastruktureller Indikatoren sind die Unterschiede innerhalb ländlicher und städtischer Räume in der Regel wesentlich größer als zwischen diesen beiden Raumkategorien.
Angesichts der Vielfalt ländlicher Räume hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Stärke, der dort verfolgten Lebensstile, der Intensität der Flächennutzung und der Ausstattung mit Infrastruktur stellt sich die Frage, was denn noch als Gemeinsamkeit dieses Raumtyps übrig bleibt und was ihn von den anderen Räumen unterscheidet. Zudem erfordert eine Beschreibung und Analyse ländlicher Räume eine gebietsbezogene Abgrenzung, um amtliche Statistiken nutzen zu können und Fragen z. B. zur Bevölkerungsentwicklung oder wirtschaftlichen Leistung ländlicher Räume beantworten zu können. Als gemeinsamer Nenner bleiben bauliche, landschaftliche und lagebezogene Merkmale. Die Abgrenzung, die im Rahmen des Monitorings ländlicher Räume des Thünen-Instituts genutzt wird, erfolgt anhand von Indikatoren für eine offene, lockere Bebauung, einen hohen Anteil an land- und forstwirtschaftlichen Flächen, weite Distanzen zu zentralen Einrichtungen und schlechte Erreichbarkeit großer Zentren. Nach dieser Definition leben in ländlichen Räumen ca. 47 Mio. Menschen, was ca. 57 Prozent der Bevölkerung Deutschlands entspricht, auf ca. 91 Prozent der Fläche.
Die so abgegrenzten ländlichen Räume fassen sehr unterschiedliche Regionen zusammen. Um die Vielfalt abzubilden, wurden diese Räume anhand ihres Grades der Ländlichkeit und ihrer sozioökonomischen Lebensverhältnisse in vier Gruppen aufgeteilt (siehe Karte). Die erste Dimension Ländlichkeit basiert auf der bereits beschriebenen Definition. Die zweite Dimension zur sozioökonomischen Lage fasst neun Indikatoren aus den Bereichen öffentliche Dienstleistungen, Einkommen, Wohnen, Gesundheit, Bildung und Arbeitslosigkeit zusammen. Die vier Typen weisen auf reale Unterschiede in den ländlichen Lebensverhältnissen in Deutschland hin.
Die Ländlichkeit gibt einen Hinweis darauf, dass es in sehr ländlichen Regionen schwieriger ist, Infrastrukturen und Dienstleistungen sowie Arbeitsplätze vor Ort zur Verfügung zu haben. Daher dürfte die Erreichbarkeit, die Qualität und Auswahlmöglichkeit dieser Angebote in den nicht-ländlichen Räumen höher, in den eher ländlichen mittel und in den sehr ländlichen niedriger sein. Eine gute sozioökonomische Lage bietet den Menschen in einer Region jedoch die Möglichkeit, Probleme aufgrund der Siedlungsstruktur zu kompensieren. So können sich hier die Bewohner*innen z. B. leichter mehrere Autos pro Haushalt leisten. Die finanzstarken Kommunen können eine höhere Versorgungsqualität anbieten und die höhere Kaufkraft führt zu mehr und attraktiveren Arbeitsplätzen. Andersherum kann eine weniger gute sozioökonomische Lage dazu beitragen, dass auch in lediglich eher ländlichen Räumen die Versorgungssituation schlecht ist.
Diese Leseprobe stammt aus dem Text „Gehen oder Bleiben?“ von Patrick Küpper und Tobias Mettenberger.
Er erschien in: Klaus Farin, Günter Mey (Hrsg.), „WIR. Heimat – Land – Jugendkultur“
Hirnkost Verlag Berlin, 2020, 326 Seiten, ISBN: 978-3-948675-53-0, € 32,-
Der Band ist auch als E-Book erhältlich: 978-3-948675-54-7 epub / 978-3-948675-55-4 pdf: € 19,99
Jugend auf dem Lande – wie lebt sie, was bewegt sie und welche Vor- und Nachteile sieht sie im Aufwachsen auf dem Land? Dieser und vielen weiteren Fragen geht das WIR-Projekt nach. Die ZEIT-Stiftung fördert die Initiative, die in sechs Bundesländern gemeinsam mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihr Lebensumfeld erforscht.
„Rural Futures“ untersucht Chancen und Konflikte zwischen Stadt und Land und verpackt wissenschaftliche Erkenntnisse in greifbare Texten.
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