„Medizin ohne Politik gibt es nicht“ – Biographie des Mediziners, Publizisten und Politikers Julius Moses
„Medizin ohne Politik gibt es nicht“ – Biographie des Mediziners, Publizisten und Politikers Julius Moses
„Medizin ohne Politik gibt es nicht“ – der Mediziner, Publizist und Politiker Julius Moses (1868-1942) hat dieses Diktum auch gelebt, wie die von Holger Böning nun vorgelegte Biographie verdeutlicht. Auf 400 Seiten entfaltet der Zeitungsforscher vom Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen das weit gespannte Wirken von Moses. Die persönliche Bekanntschaft, ja Freundschaft des Autors mit Kurt Nemitz, dem Sohn von Julius Moses, legte den Grundstein für diese Lebensbeschreibung.
Böning interessiert zunächst das intensive publizistische Wirken („Die jüdische Epoche“), von der Gründung des General-Anzeigers für die gesamten Interessen des Judentums (1902-1911), über die satirische Zeitung Schlemiel (1904-1906) bis zur Anthologie Hebräische Melodien (1907) des niedergelassenen Arztes.
Moses Verbundenheit mit der Sozialdemokratie und seine Rolle in der Gebärstreik-Debatte werden beleuchtet, ebenso die politische Radikalisierung infolge des Ersten Weltkriegs, als Moses der USPD beitritt. Von 1920 bis 1932 gehört Moses dem Reichstag und dem Parteivorstand der SPD an. Der geachtete Parlamentarier „versteht es, aus der praktischen Anschauung politische Forderungen zu entwickeln“, wie sein Biograph schreibt. Ob Bergarbeiter oder streikende Ärzte, „Moses findet unverbrauchte Worte, fern von jedem Politikkauderwelsch“. Beeindruckend ist seine Tätigkeit als Vorsitzender des Reichsbegnadigungsausschusses und sein Eintreten für die Reform des Strafvollzugs sowie für die ärztliche Versorgung von Strafgefangenen. Bemerkenswert ist nicht nur seine Sammlung parlamentarischer Redeblüten, auch das eigene politische Wirken gießt er in Knittelverse: „Der ‚gelehrte‘ Reichstag. Ein neues Lied für artige Reichstagskinder“ mündet in die Zeilen: „Der Eine schlief, der Letzte lief,/Wohin in Leibesnot,/Und als man Doktor Moses rief,/Da war der Reichstag – tot.“
Antisemitische Hetze kennt Moses nur zu gut, früh warnt er vor dem Nationalsozialismus und prangert die Experimentierfreude von Standeskollegen im Geiste eines weit verbreiteten Herrenmenschentums an. „Aus Kindern werden Briefe“, schreibt er, als ein Sohn emigrieren muss. Die radikaler werdende Ausgrenzung erfasst die berufliche und schließlich die materielle Existenz, die Trennung von Moses‘ nichtjüdischer Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn wird unausweichlich. „Jahre des Terrors und zunehmender Einsamkeit“ folgen – von Moses hellsichtig analysiert. Im September 1942 findet der „Volksarzt und Prophet des Schreckens“ in Theresienstadt den Tod.
Julius Moses in seinem starken sozialmedizinischen, seinem publizistischen wie in seinem politischen Engagement zeigt das vorliegende anschaulich geschriebene Buch anhand zahlreicher Quellen. Es ermöglicht die zeithistorische Einordnung eines bemerkenswerten jüdischen Lebens in Deutschland. Julius Moses hat oft gesagt: „Nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein.“ Holger Bönings informationsstarkes Buch zeigt, wie sehr diese Charakterisierung auf Moses selbst zutraf.
Holger Böning, „Volksarzt und Prophet des Schreckens. Julius Moses. Ein jüdisches Leben in Deutschland“, edition lumière, Bremen, 2016, 410 S., 40 Farbtafeln, zahlreiche SW-Abb., ISBN 978-3-943245-40-0, € 29,80