William Stern
William Stern
Der Experimentalpsychologe William Stern (1871 – 1938) wird 1916 Professor in Hamburg. Eine akademische Karriere mit Hindernissen, denn wegen seiner jüdischen Herkunft hatte der gebürtige Breslauer in seiner Heimatstadt nicht Ordinarius werden können. Der Erfinder des Intelligenzquotienten war „zu seiner Zeit ein Star“, wie es im Hamburger Kopf heißt. Heute ist Stern kaum noch bekannt. Martin Tschechne porträtiert einen herausragenden Forscher, der im Exil an nationalsozialistischer Ausgrenzung und Verfolgung zerbrach.
William Stern und seine Frau Clara beginnen die „Kindertagebücher“ mit Beobachtungen über die beiden Töchter Eva und Hilde und Sohn Günther, der als Günther Anders weltberühmt wird: „Niemals zuvor und nie seither hat ein Elternpaar die psychische und geistige Entwicklung seiner Nachkommen so verlässlich dokumentiert.“ Studien wie die „Psychologie der frühen Kindheit“ und die „Differentielle Psychologie“ sind Standardwerke. Neben der theoretischen Arbeit widmet sich Stern der angewandten Wissenschaft – ob Fähigkeitsdiagnose oder Begabungspotenziale, er entwickelt passende Tests, standardisierte Interviews und Beobachtungsschemata. Seine Experimente sind auch vor Gericht relevant, wenn es um Zeugenvernehmungen und die Erinnerungsqualität von Zeugen geht. Stern begründet mit der angewandten Psychologie einen Forschungs- und einen Berufszweig: „Nichts geht mehr ohne psychologische Expertise.“ 1912 führt er den Intelligenzquotienten in die wissenschaftliche Diskussion ein. Der IQ beziffert die Abweichung der Werte einer einzelnen Person vom Durchschnittswert einer Gesamtpopulation. Wirklich glücklich geworden sei er damit nicht, wie der Band darlegt. Stern entwickelt für die Messung von Intelligenz zwar neue und bis heute gültige Methoden, besteht aber darauf, dass jeder Mensch als unteilbares Ganzes zu betrachten sei: „Individualität ist auf differential-psychologischem Wege nicht fassbar.“ So zweifelt, ja verzweifelt er schließlich daran, „wie unbedacht die Instrumente und Verfahren eingesetzt werden, die er seiner Disziplin zur ökonomischen Anwendung zur Verfügung gestellt hat.“
Der Hamburger Kopf schildert die beeindruckenden Leistungen William Sterns. Seine entscheidende Rolle bei der Gründung der Hamburger Universität 1919 wird ebenso dargelegt wie seine schmähliche Vertreibung 1933, seine Maßstäbe setzenden Messverfahren zur Bestimmung menschlicher Fähigkeiten ebenso beschrieben wie seine Zerrissenheit angesichts deren Missbrauch.
Tschechne, Martin, William Stern, im Rahmen der Hamburger Köpfe herausgegeben von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Ellert & Richter Verlag, Hamburg, 2010, 160 Seiten mit 35 Abbildungen, ISBN 978-3-8319-0404-4, 14,90 EUR