© Andreas Henn für DIE ZEIT

Solidarität im Scheinwerferlicht

Von Applaus begleitet empfingen Irina Scherbakowa und die Tafel Deutschland e.V. den Marion-Dönhoff-Preis. Bundeskanzler Scholz hielt eine Laudatio.

Vielleicht waren es die Wellen der Empathie, vielleicht die bewegenden Worte, vielleicht die ehrfürchtige Atmosphäre im Raum. Als die russische Menschenrechtlerin und Historikerin Irina Scherbakowa und die Hilfsorganisation Tafel Deutschland e.V. in Hamburg den Marion-Dönhoff-Preis für Internationale Versöhnung und Verständigung entgegennehmen, will der Applaus jedenfalls nicht enden. Ob in der Laudatio für Scherbakowa, ausgesprochen von Bundeskanzler Olaf Scholz, oder den Dankesreden der Preisträger:innen selbst – die Zuschauer:innen nutzen jeden Moment, um die Bedeutung des Tages durch Beifall zu unterstreichen. Verständlich: Es geht um politische, soziale und Energie-Krisen, wie sie unzählige Menschen im Alltag betreffen. Es geht um Krieg. Es geht um internationale und lokale Solidarität.

Vielleicht ist dieser Sonntag im Hamburger Schauspielhaus aber auch ein besonderer Vormittag, weil der Marion-Dönhoff-Preis in diesem Jahr sein 20. Jubiläum feiert. Welches Vermächtnis für Versöhnung und Verständigung die ehemalige ZEIT-Chefredakteurin Marion Gräfin Dönhoff geschaffen hat, machte ein Kurzfilm ihres Lebenswerks deutlich, der im Vorfeld der Preisverleihungen gezeigt wurde. Dönhoffs Lebenswerk ist eine passende Überleitung zur Geschichte des Preises selbst: Von Desmond Tutu bis zur Organisation Fridays for Future sind die Haupt- und Förderpreisträger:innen immer ein Spiegel der gesellschaftspolitischen Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre. Und damit jetzt auch die Hilfsorganisation Tafel Deutschland e.V., die den mit 20.000 Euro dotierten Förderpreis für ihre Arbeit in der Lebensmittelhilfe entgegennimmt, und Irina Scherbakowa, die in der Ukraine geborene russische Historikerin, Menschenrechtlerin und Mitgründerin der Organisation Memorial. Memorial ist eine der wichtigsten Menschenrechtsorganisation in Russland und weltweit. Im Dezember wurde die Organisation vom Obersten Gericht in Moskau verboten und aufgelöst. Am 10. Dezember erhält Memorial in Oslo den Friedensnobelpreis.

Neuigkeit_MDP_2022.jpg (216 KB)Die Preisträger:innen zusammen mit Moderatorin Julia-Niharika Sen, Bundeskanzler Olaf Scholz und ZEIT-Journalist Matthias Naß. © Andreas Henn für DIE ZEIT

Hauptpreis für Irina Scherbakowa mit Laudatio von Bundeskanzler Olaf Scholz

Vor diesen Hintergründen sind es also große Worte, die im Scheinwerferlicht des Schauspielhauses gesprochen werden. Die von Dönhoff unterstrichene Bedeutung von Verständigung hebt auch Bundeskanzler Olaf Scholz im Bezug auf Russland und Putins Angriffskrieg in der Ukraine hervor. Die essentiellen Botschaften des Tages haben aber die Preisträger:innen selbst. Für sie sei der Preis ein Zeichen der Solidarität, sagt Hauptpreisträgerin Irina Scherbakowa in ihrer Dankesrede, und erklärt sinngemäß: Als Historikerin, die sich oft mit den Biografien anderer Menschen beschäftige, sei es schwierig, ihre eigene im Fokus zu sehen. Umso mehr rückt Scherbakowa die allgemeine Bedeutung von Frauen in Widerstand und Opposition in den Fokus: „Frauen, die sich nicht fügen und sich nicht anpassen wollen, Frauen, die eine ungeheure Lebenskraft besitzen. Es ist bezeichnend, dass man solche Frauen immer wieder als schwierig empfindet. (…)“ Ein Musterbeispiel dafür sei Gräfin Dönhoff, so Scherbakowa. Darüber hinaus gelte ihr besonderer Respekt Frauen wie der tschetschenischen Menschenrechtlerin und Memorial-Kollegin Natalja Estemirowa und der belarussischen Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa.

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Irina Scherbakowa während ihrer Dankesrede. © Andreas Henn für DIE ZEIT

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Bundeskanzler Olaf Scholz hält die Laudatio für Irina Scherbakowa. © Andreas Henn für DIE ZEIT

Förderpreis für die Tafel Deutschland e.V. mit Laudatio von Katharina Fegebank

Über Respekt spricht auch das Team der Tafel Deutschland e.V. Die Laudatio für den Förderpreis kommt von Hamburgs zweiter Bürgermeisterin Katharina Fegebank, die die Verantwortung der Politik im Krisenmanagement betont – noch bevor eine Hilfsorganisation wie die Tafel überhaupt einsteigen kann. Die gesellschaftliche Wahrnehmung der Menschen, die Hilfe durch die Tafel empfangen, müsse sich ebenfalls grundlegend ändern, fügen die Preisträger:innen selbst hinzu: Wer Hilfe empfängt, ist kein schlechter Mensch. Nachklingen dürfte für Gäst:innen auch die Zahl, die Tafel-Schatzmeister Willi Schmid nennt: Allein für den Energie-Betrieb und Fuhrpark einer einzelnen Tafel-Location in Deutschland braucht es jährlich zwischen 90.000 und 100.000 Euro. Ein Tropfen auf den heißen Stein sei das Preisgeld von 20.000 Euro aber trotzdem nicht.

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Der Vorsitzende und die Geschäftsführung der Tafel Deutschland e.V. nehmen den Förderpreis 2022 entgegen. © Andreas Henn für DIE ZEIT

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Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank hält die Laudatio für den Förderpreis und Tafel Deutschland e.V. © Andreas Henn für DIE ZEIT

Der Marion-Dönhoff-Preis für Internationale Versöhnung und Verständigung wird jährlich von Die ZEIT, der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und der Marion-Dönhoff-Stiftung vergeben. Die Preisträger:innen wurden von einer Jury ausgewählt, der Friedrich Dönhoff, Norbert Frei, Astrid Frohloff, Maja Göpel, Manfred Lahnstein, Matthias Naß, Janusz Reiter und Anne Will angehören. Zahlreiche Leserinnen und Leser sind dem Aufruf der ZEIT gefolgt und haben verschiedene Personen und Organisationen vorgeschlagen, die sich im Sinne Marion Dönhoffs für internationale Verständigung und Versöhnung engagieren.