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„Nur weil ein Projekt umstritten ist, ist es nicht falsch“

In der zweiten Ausgabe von „Was ich schon immer einmal sagen wollte“ sprach Michael Göring mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher.

Welche Hoffnung hat Peter Tschentscher für das Jahr 2023? „Ich hoffe, dass der Ukraine-Krieg ein Ende findet und wir die Auswirkungen – die Energiekrise, Lieferkettenprobleme und Inflation – gut überstehen. So, wie wir als Stadt auch die Pandemie gut überstanden haben“, sagt der Erste Bürgermeister Hamburgs. Mit diesen Worten eröffnen Michael Göring, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, und Tschentscher ihr Gespräch in der Bucerius Law School. Rund anderthalb Stunden später endet es mit einem Moment, der jene Hoffnung auf das „Überstehen“ anschaulich beschreibt: Die letzte Veranstaltung, bei der der Bürgermeister in der Bucerius Law School als Diskussionspartner zu Gast war, fand am 23. Februar 2022 statt – einen Abend, bevor der russische Angriffskrieg in der Ukraine ausbrach. Nun gefragt, ob er damit rechne, dass sich der Krieg fast ein Jahr später auf weitere NATO-Länder ausbreitet, antwortet Tschentscher: „Diese Sorge muss man haben, und deshalb finde ich es wichtig, dass diese Überlegung jeden Tag eine Rolle spielt. Wir wissen nicht, was noch kommt, aber wir können sicher sein, dass der Bundeskanzler seine Entscheidungen in diesem Sinne abwägt und eng mit den Verbündeten abstimmt.“

WISIESW2.jpg (2.19 MB)Foto: © Bucerius Law School

Ein Abwägen von Entscheidungen ist der Kern jeder politischen Aufgabe. Das Vorgehen spielt aber auch für Tschentscher privat wie beruflich eine zentrale Rolle, das macht er an diesem Abend mehrfach deutlich. „Man darf immer Rückschau halten und Kritik üben, aber man sollte bedenken, dass frühere Entscheidungen immer auf dem damaligen Stand der Lage und Erkenntnisse getroffen wurden“, kommentiert er zum Beispiel die vergangene Corona-Politik. „Wir beurteilen historische Persönlichkeiten aus heutigen Ansprüchen heraus“, antwortet er, als ein Gast im Publikum nach dem Umgang mit kolonialen Denkmälern fragt. „Das Kontextualisieren halte ich hier für den richtigen Umgang.“ Am Vorabend dieses Gesprächs hatte Tschentscher noch mit einer anderen Abwägung für Berichterstattung gesorgt, als er sich in Sachen Hamburger Elbvertiefung für die Sedimentverbringung in der Hamburger Außenelbe aussprach. Auch darum geht es in der Diskussion mit Michael Göring. Ganz konkret interessiert das Publikum hier, wie Tschentscher eben solche umstrittenen (Umwelt-) Entscheidungen abwägt – und verteidigt. „Kritik muss zu Ende gedacht werden“, antwortet er und illustriert am Beispiel einer neuen U-Bahn-Linie, dass die langfristigen Umweltauswirkungen die kurzfristigen Belastungen weit überwiegen würden. Kurz: „Nur weil ein Projekt umstritten ist, ist es nicht falsch“, so Tschentscher. 

WISIESW1.jpg (108 KB)Foto: © Senatskanzlei Hamburg

WISIESW3.jpg (2.52 MB)Foto: © Bucerius Law School

Im März 2023 ist der SPD-Politiker und studierte Mediziner seit fünf Jahren Erster Bürgermeister von Hamburg. Schon als Schüler sei er politisch interessiert gewesen, aber erst während des Studiums Mitglied bei den Jusos geworden und erst später neben der Arbeit als Arzt, Wissenschaftler und Universitäts-Dozent schrittweise in die Politik gegangen: „Meine Kollegen gingen abends Tennis spielen, ich zu politischen Terminen“. In seinem heutigen Amt betreibe Tschentscher seinen eigenen Worten nach manchmal auch „Stadtmarketing“, zum Beispiel als es um Hamburgs Bewerbung um die olympischen Sommerspiele ging. Den im deutschen Metropol-Vergleich kleineren Anteile von akademisch ausgebildeten Arbeitnehmer:innen begründete er mit der besonderen Struktur des Wirtschaftsstandortes. Den Hafen und die maritime Wirtschaft will Tschentscher noch umweltfreundlicher machen und um neue Schwerpunkte wie den E-Commerce ergänzen. An anderer Stelle bezeichnet er die Quantencomputertechnologie der Hansestadt als „Weltspitze“, die Start-Up-Szene als sehr interessant für „smarte Köpfe“.

War und ist Hamburg dann mutig genug mit großen Entscheidungen, will Michael Göring noch wissen. Die Antwort des Ersten Bürgermeisters hätte wohl auch zu seinem Selbstbild gepasst: „Man hat in der Hansestadt einen realistischen Blick auf Risiken“, sagt er. „(…) Ich finde, wir sind mutig, aber nicht risikoblind. Wir wägen ab und bleiben mit beiden Beinen in der Realität.“

Die nächste Ausgabe von „Was ich schon immer einmal sagen wollte“ findet im Mai 2023 statt. Zu Gast bei Michael Göring ist dann die Zweite Bürgermeisterin Hamburgs, Katharina Fegebank.