Frau Westheider, Sie waren die erste Kuratorin in der Geschichte des Bucerius Kunst Forums. Wie erlebten Sie die Anfänge des Hauses?
ORTRUD WESTHEIDER: Zu Beginn hatten wir unsere Büros bei der ZEIT-Stiftung, weil das Museum noch im Bau war. Von dort bereiteten Gründungsdirektor Heinz Spielmann und ich unsere erste Ausstellung „Picasso und die Mythen“ vor, die wir gemeinsam mit dem Gastkurator Steingrim Laursen gestalteten. Im August 2002 traf dann das Elbhochwasser Dresden und die dortigen Museen schwer. Die ZEIT-Stiftung stellte damals Geld bereit, um beschädigte Kunstwerke zu restaurieren. Dadurch standen wir in Kontakt mit Martin Roth, dem damaligen Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Wir wollten die Gelegenheit nutzen und ihn fragen, ob wir für eine geplante Cranach-Ausstellung einige Werke aus der Gemäldegalerie ausleihen könnten. Wir haben also mit ihm telefoniert.
Wie lief das Telefonat?
OW: Herr Spielmann und ich saßen mit dem Cranach-Werkverzeichnis vor dem Telefon, um nach bestimmten Werken fragen zu können. Und dann bot uns Roth eine ganze Ausstellung der Alten Meister aus der Dresdner Gemäldegalerie an. Innerhalb von drei Wochen erstellten wir einen Katalog. Und weil der Bau des Bucerius Kunst Forums früher fertig war als gedacht, verschoben wir Picasso und starteten mit den Meisterwerken aus Dresden. Das ging alles unglaublich schnell. Plötzlich hingen in unseren neuen Räumen Tizian, Rubens und Mantegna.
Das klingt nach einer aufregenden Zeit. Frau Baumstark, sie sind seit 2019 künstlerische Leiterin des Hauses – wie viel von der Spontanität und Offenheit hat überdauert?
KATHRIN BAUMSTARK: Das Schöne ist, dass wir hier eigene Ideen entwickeln können. Das Spektrum ist riesig und einmalig. Es reicht von der Antike bis in die Gegenwart. Und so haben wir 2021 eine Ausstellung zu der Frage, wie Fotografie und Malerei die Sphäre der Industrie darstellten und darstellen. Und in zwei Jahren eröffnen wir eine Augustus-Ausstellung, die unser Geschäftsführer Andreas Hoffmann, ein Archäologe, und ein internationales Team gerade vorbereiten.
Wie wichtig sind Gastkurator:innen für das Kunst Forum?
OW: Ohne sie hätten wir das Museum nicht starten können. Weil wir pro Jahr drei Ausstellungen mit einem speziellen Themenfokus hatten, brauchten wir kompetente Partnerinnen und Partner, von denen wir etwas lernen konnten. Gleichzeitig helfen gut vernetzte Gastkuratoren wie Steingrim Laursen, damals Direktor des Louisiana-Museums bei Kopenhagen mit hervorragenden Kontakten in die USA, die passenden Werke für Ausstellungen zu bekommen – denn ihnen vertrauen die Leihgeber und Leihgeberinnen wie das MoMA in New York.
KB: Bei meiner Arbeit merke ich auch immer wieder, welchen Schatz Frau Westheider und Herr Spielmann mir hinterlassen haben: Das globale Netzwerk erleichtert meine Arbeit sehr.
Woran merken Sie das konkret?
KB: Nun, wenn ich eine Anfrage stelle, dann bekomme ich eine Antwort, was nicht selbstverständlich ist. Aber in der Kunstwelt kennt man uns mittlerweile. Außerdem kommen immer wieder frühere Partnerinnen und Partner mit Ideen auf uns zu. Zum Beispiel kam von Brigitte Léal vom Pariser Centre Pompidou, die 2016 einen Aufsatz für den Picasso-Katalog geschrieben hatte, die Idee, eine Braque-Ausstellung zu machen – die erste seit 1988. Das Centre Pompidou besitzt die größte Braque-Sammlung der Welt. So schloss sich ein Kreis.
Haben Sie beide eigentlich mal direkt am Kunst Forum zusammengearbeitet?
KB: Ja, aber nur ganz kurz, bei der Ausstellung „Picasso. Fenster zur Welt“. Ich hätte gern noch mehr von Ihnen, Frau Westheider, gelernt. Bewundert habe ich immer Ihre Ruhe, die Zeit, die Sie sich für die Werke gelassen haben, die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit, die damit einhergeht.
OW: Nach der Ausstellung kam das Angebot, das Museum Barberini in Potsdam mit aufzubauen. Nach zehn Jahren in Hamburg war es eine Freude, die Dinge, die ich am Kunst Forum lernen durfte, dort anzuwenden. Aber wir tauschen uns bis heute aus.
Der Anspruch des Kunst Forums war es immer, ein breites Publikum anzusprechen, von Kunstexpert:innen bis zu interessierten Lai:innen. Wie geht das?
OW: Man darf niederschwellig nicht von anspruchsvoll trennen. Das ist ein Fehler, den viele machen.
Und wie vermeidet man den Fehler?
OW: Ich glaube an das Konzept der „drei Fs“: Fanfare, Fokus, Forschung. Wir stoßen in die Fanfare, indem wir uns der großen Themen, Künstler:innen und Werke annehmen. Picasso-Leihgaben bekommt man nur, wenn man einen neuen oder interessanten Fokus setzt – eine Perspektive, die die Partnermuseen überzeugt. Und das leitet dann über zur Forschung: Der Katalog muss so gründlich und fundiert sein, dass er auch Jahre später noch zitiert wird. Um das zu gewährleisten, hat das Kunst Forum immer Symposien zum Thema der Ausstellung veranstaltet, auf denen der Stand der Forschung diskutiert wurde. Diese Erkenntnisse flossen dann in Katalog, Wandtexte und Audioguides ein.
KB: Ihre „drei Fs“ finde ich sehr schön. Ich möchte mit jeder Ausstellung eine Geschichte erzählen. Die Kunst soll erfahrbar werden, die Besucherinnen und Besucher sollen in ihr Dinge entdecken, die überraschen, die sie noch nicht kannten. Dafür müssen die Werktexte stimmen und natürlich auch die Hängung. Wenn ich zwei Werke nebeneinandersetze, die sich vielleicht noch nie begegnet sind, dann passiert etwas, das auch unsere Gäste bemerken. Dafür braucht es eigentlich keinen Text mehr.
Oft braucht es Jahre der Vorbereitung, bis eine Ausstellung realisiert wird. Können Sie sich an besondere Momente erinnern, an Werke, auf die Sie sich besonders gefreut haben?
OW: Mit dem Sound der Akkuschrauber, die die Kisten öffnen, endet die Vorbereitungsphase. Kein Wunder, dass ich das Geräusch sehr mag. Ein besonderer Moment war, als wir die riesigen Kisten aus dem MoMA mit Gerhard Richters RAF-Zyklus „18. Oktober 1977“ öffneten. Der Zyklus war ein Politikum, denn als das MoMA ihn kaufte, stand die Frage im Raum, warum keine deutsche Institution sich um dieses wichtige Werk gekümmert hatte. Bei uns war es nun endlich wieder in Deutschland zu sehen.
KB: Wenn die Werke angeliefert werden, ist das jedes Mal wie Weihnachten. Ich freue mich über jedes einzelne Werk.
Die Rolle von Museen hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Es geht nicht mehr nur darum, Kunst zu zeigen, sondern darum, ein Erlebnis zu kreieren. Wie sieht das Museum der Zukunft aus?
OW: Es geht darum, über die Kunst verschiedene Milieus zusammenzubringen. Dafür reicht es nicht mehr, nur Bilder zu zeigen. Das Rahmenprogramm wird immer wichtiger.
KB: Das stimmt. Und mit ihm kann man dann auch wieder Gruppen ansprechen, die sonst nicht unbedingt ins Museum gehen. Mein Highlight der letzten Jahre war eine Kopfhörerparty, die Idee einer jungen Kollegin. Vier DJs legten im Kunst Forum auf, man konnte sich über Funkkopfhörer in das jeweilige Set einwählen und mit der Musik durch die Ausstellung flanieren. Im Auditorium fand dann die Party statt. Alle tanzten, und trotzdem war es total ruhig. Es kamen 800 vor allem junge Leute.
OW: Die Digitalisierung bietet uns einerseits mehr Möglichkeiten der Vernetzung und Recherche, andererseits verändern sich auch die Ausstellungen selbst. Das Werk steht immer noch im Zentrum, aber durch Apps und Webseiten kann man direkt Zusatzinformationen versenden. Das verfeinert die Kunstvermittlung sehr.
KB: Ich habe lange daran gezweifelt, dass die reale Begegnung mit einem Originalwerk durch digitale Hilfsmittel zu ersetzen ist. Doch gerade in der Coronakrise habe ich gelernt, dass digitale Medien einen ganz eigenen Wert haben. Während des ersten Lockdowns haben wir zum Beispiel das Format „Curator’s View @Home“ entwickelt: In kurzen Videoclips habe ich ein Werk aus der Ausstellung vorgestellt. Die Reaktion der Zuschauerinnen und Zuschauer war ganz oft: Hoffentlich sehe ich es bald in echt! Durch die digitale Vermittlung haben Kunstwerke also sogar noch einen höheren Stellenwert bekommen. Das zeigt, dass sich diese beiden Welten nicht kannibalisieren, sondern im Gegenteil verstärken.
Ortrud Westheider war ab 2002 die erste Kuratorin des Kunst Forums und ab 2006 dessen Direktorin. Seit 2013 arbeitet sie als Direktorin am Museum Barberini in Potsdam. Für das Kunst Forum kuratierte sie unter anderem die Ausstellungen „Frida Kahlo“ und „Mondrian. Farbe“.
Kathrin Baumstark begann 2016 am Bucerius Kunst Forum als Kuratorin zu arbeiten. Seit 2019 ist sie künstlerische Leiterin des Hauses. Dort kuratierte sie unter anderem die Ausstellungen „Here We Are Today. Das Bild der Welt in Foto- & Videokunst“ und „David Hockney. Die Tate zu Gast“.
Eine Ausstellung und ein umfangreiches Begleitprogramm im Bucerius Kunst Forum beleuchten das Werk von Lee Miller in vielseitigen Facetten.
19. Mai 2023Willkommen zurück: Evelyn Bertz übernimmt zum 1. Juni 2023 die Leitung Verwaltung und Finanzen des Bucerius Kunst Forums in Hamburg.
04. April 2023Am 8. März ist der Eintritt ins Bucerius Kunst Forum kostenlos. Direktorin Baumstark erklärt hier, wie das Haus Künstlerinnen in Szene setzt.
06. März 2023Bis in den Mai bietet die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum einen Blick auf die Porträts der Künstlerin und Veranstaltungen für alle Altersgruppen.
06. Februar 2023Prof. Dr. Andreas Hoffmann ist seit 2007 Geschäftsführer des Bucerius Kunst Forums und übernimmt zum 1. Mai die Geschäftsführung der documenta.
12. Januar 2023Das Ausstellungsprogramm des Hauses feiert in 2023 Frauen aus über 300 Jahren Kunstgeschichte.
30. November 2022Ausstellung „Die neuen Bilder des Augustus. Macht und Medien im antiken Rom“ über die Bildsprache des ersten römischen Kaisers.
07. Oktober 202235.000 Euro sind durch Spendenaktionen von März bis September 2022 für den Culture of Solidarity Fund Ukraine zusammengekommen.
15. September 2022Vor 25 Jahren starb unsere Stifterin Ebelin Bucerius. Mit ihrem Mann baute sie den Zeitverlag auf und legte damit den Grundstein für diese Stiftung.
05. Juli 2022Beim Festakt zum 50. Jubiläum der ZEIT-Stiftung sprach Bundespräsident Steinmeier über die Stärken von Demokratien und lobte die Rolle von Stiftungen.
18. Mai 2022Die Ausstellung zeigt ikonische Fotografien im Rahmen der 8. Triennale der Photographie in Hamburg.
13. Mai 2022Die bisherige künstlerische Leiterin wird zum 1. Mai Direktorin des Hamburger Ausstellungshauses der ZEIT-Stiftung.
22. April 2022In der aktuellen Ausstellung „Minimal Art" werden geometrische Formen aus Plexiglas, Holz, Metall und Neonröhren in Szene gesetzt.
11. Februar 2022Bis 1962 sitzt der Verleger für die CDU im Bundestag. Dann kommt es zum Zerwürfnis zwischen ihm und der Partei.
08. Februar 2022Langjährige Wegbegleiter:innen und Mitarbeiter:innen sprechen über Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft der ZEIT-Stiftung.
14. Dezember 2021Gesucht wurden Projekte, die auf die Wertvorstellungen Gerd Bucerius verweisen, die Diskussionskultur fördern und demokratische Grundwerte vermitteln.
14. Dezember 20211971 gründete Gerd Bucerius die ZEIT-Stiftung. Sein Handeln und Denken treibt uns bis heute an.
14. Dezember 2021Am 15. Dezember 1971 genehmigte der Hamburger Senat die Gründung der ZEIT-Stiftung durch Gerd Bucerius – eine Chronik.
14. Dezember 2021Der ehemalige Finanzvorstand Michael Berndt berichtet, wie man eine Stiftung auch in wirtschaftlich stürmischen Zeiten auf Kurs hält.
07. Dezember 2021Die Gründung der Bucerius Law School war eine Revolution und veränderte die deutsche Bildungslandschaft nachhaltig. Wie kam es dazu?
05. Dezember 202150 Jahre ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius – ein Grund zum Feiern, wenn auch mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen aufgrund der Coronapandemie.
23. November 2021Vom 16. Oktober bis 23. Januar zeigt das Bucerius Kunst Forum Werke von Emil Nolde, die größtenteils zwischen 1900 und 1902 entstanden sind.
21. Oktober 2021Auf 122 Seiten enthält das Jubiläumsmagazin einen Rückblick auf 50 Jahre ZEIT-Stiftung, Einblicke in die Projekte und einen Ausblick in die Zukunft.
25. Juli 2021Mit der dreiteiligen Video-Reihe bietet das Bucerius Kunst Forum die Möglichkeit, die Ausstellung „Georges Braque. Tanz der Formen“ auf besondere Weise zu erleben.
16. April 2021