„Dieses Durcheinanderreden finde ich ungeheuer wichtig“

Der langjährige Kuratoriumsvorsitzende Manfred Lahnstein erklärt, warum internationaler persönlicher Austausch ein Fundament der Stiftungsarbeit ist.

Herr Lahnstein, Sie waren über 50 Jahre international aktiv, haben immer über Landesgrenzen hinweg gedacht. Wie gelingt Ihnen der globale Austausch momentan, bei Reisebeschränkungen und geschlossenen Grenzen?

Die Möglichkeiten, ohne physische Anwesenheit international Kontakt zu halten, sind heute ja viel größer als früher. Ich benutze Videotelefonie – wie jetzt mit Ihnen –, um mit meiner Tochter in London oder meinem besten Freund in Italien zu sprechen. Das gemeinsame Treffen an einem Ort kann das natürlich nicht ersetzen. In meinem Alter hält man das aus, ich beschränke mich auf mein Umfeld in Hamburg. Aber ich kann verstehen, dass dieser Austausch vor allem den jüngeren Leuten momentan sehr fehlt.

Der persönliche Austausch ist zum Beispiel bei der Bucerius Summer School essenziell. Alle sind am selben Ort, alle können direkt miteinander sprechen.

Bei der Kommunikation via Zoom oder E-Mail fehlt ein wenig die Nähe. Ein „Guten Tag“ über den Bildschirm ist etwas ganz anderes als das Händeschütteln oder die Umarmung. Auch eine Diskussion läuft völlig anders ab. Wer physisch zusammensitzt, kann durcheinanderreden. Und dieses Durcheinanderreden finde ich ungeheuer wichtig. Nur dann fetzt es, dann geht es hin und her, das braucht eine gute Diskussion. Über Bildschirme reden wir jetzt sehr gesetzt miteinander, wie früher in einem Seminar an der Universität. Bei Treffen wie der Summer School steht man außerdem auch mal gemeinsam in der Kaffeeschlange, man sitzt abends noch zusammen. In diesen Gesprächen kommt man auf ganz andere Dinge, man kann sich auch mal mit einem Witz überfallen, was ich besonders gern tue. Diese Intensität des Austauschs, die lässt sich digital nicht erreichen.

Was für eine Rolle hat der internationale Austausch in Ihrem Berufsleben gespielt?

Ich hatte sehr viel Glück und bin praktisch als Weltbürger durchs Leben gegangen. Aus ganz verschiedenen Gründen hatte ich bei jeder Station internationale Kontakte. Ich habe neun Jahre lang in Brüssel gelebt und gearbeitet, für die Europäische Kommission. Damals hatte die Europäische Gemeinschaft sechs Mitgliedsstaaten. Ich war noch keine 30, und es war für mich einmalig, mit jungen Menschen aus fünf anderen Ländern arbeiten zu können. Diese Zeit hat mir für die Entwicklung meiner späteren Kontakte ungemein geholfen. Das fing mit der Sprache an. Mich jeden Tag in einer Sprache auszudrücken, die ich nur aus der Schule kannte, war sehr wertvoll. Damals war die Amtssprache der EU übrigens nicht Englisch, sondern Französisch. Daneben bin ich schon seit über 50 Jahren regelmäßig in Israel gereist, insgesamt um die 100-mal, und rund 60-mal in den USA. Wenn ich mir vorstelle, dass ich diesen Austausch nicht gehabt hätte … Das wäre schlimm!

Wie haben Sie früher über große Entfernungen hinweg Kontakt gehalten?

Vor 50 Jahren sahen die technischen Möglichkeiten natürlich völlig anders aus. Als ich anfing zu arbeiten, gab es noch nicht einmal Faxgeräte. Man konnte zwar telefonieren, aber international war das sehr teuer. Und Konferenzen mit mehreren Anrufern gab es auch nicht. Das heißt, der enge internationale Kontakt ging über Briefe und vor allem durch das persönliche Treffen. Ich war als junger Mensch auch einmal im Jahr beim berühmten Harvard-Seminar, das Vorbild für unsere Summer School war. Und wenn man dort einmal zusammensaß, war das auch nicht anders als heute.

Wie sind Ihre internationalen Erfahrungen in die Arbeit bei der ZEIT­-Stiftung eingeflossen?

Ich war ja nun nicht der Einzige, der international geprägt war. Das gilt und galt auch für Michael Göring, Helmut Schmidt, Theo Sommer und Marion Gräfin Dönhoff. Für uns hat sich nach dem Tod von Gerd Bucerius die Frage gestellt, wie wir unsere Arbeit international ausrichten sollen. Auch Herr Sommer, Herr Schmidt und die Gräfin Dönhoff kannten das Harvard-Seminar, als Teilnehmer oder Vortragende. Wir stellten uns also bei einem gemeinsamen Abendessen die Frage: „Sollen wir Deutschland nicht auch so ein Format zutrauen, um den Blick der jungen Leuten zu weiten?“ Daraus entwickelte sich die Bucerius Summer School und schließlich auch das Asian Forum on Global Governance.

Die Bucerius Summer School hat die intensive Begegnung, das Kennenlernen und Kontakthalten zum Ziel. Was braucht es, um sich wirklich auszutauschen?

Über die ganze Woche hinweg gibt es Gemeinschaftsbildung, wie die berühmte Drachenbootfahrt oder Ausflüge, bei denen alle stundenlang im Bus zusammensitzen. Wir konnten von einer Sache immer sicher ausgehen: Das sind ungemein neugierige Menschen. Für mich war es verblüffend, wie rasch die Kontakte dort zustande kamen. Ich habe immer darauf geachtet, dass sich auch Menschen aus unterschiedlichen Hintergründen austauschen, jemand aus Israel und dem arabischen Raum, jemand aus China und den USA.

Wie finden Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven eine gemeinsame Ebene, ohne zu streiten?

Es muss gestritten werden! Ohne Streit keine Debatte. Man kommt aber nur bis zu einem gewissen Punkt, wenn man über die Perspektive und die Denkweise des anderen zu wenig weiß. Diesen Punkt kann man gemeinsam finden und sich fragen: Worüber können wir vernünftig debattieren, ohne dass unsere Wissenslücke über den anderen eine Rolle spielt? Meistens ist das eine ganze Menge! Und bei den Fragen in der Bucerius Summer School, wenn zum Beispiel über die Gefahr eines neuen globalen Wettrüstens diskutiert wird, geht das ohne jede Schwierigkeit.

War der sogenannte gemeinsame Nenner in Diskussionen früher leichter oder schwieriger zu finden?

Früher war es leichter. Aber mit wem konnten Sie 1980 überhaupt diskutieren? Die Diskussion war beschränkt auf die Länder des Westens. Die ganze damalige Sowjetunion war außen vor. Dazu gehörte auch die DDR. Es war leichter, mit einem Australier zusammenzukommen, als mit jemandem aus Leipzig. Mit einem jungen Russen oder Chinesen zu diskutieren – damals völlig ausgeschlossen! Insofern lässt sich das nicht mit heute vergleichen.

Gerade in den letzten Jahren warnen viele davor, dass sich neue Grenzen bilden und das Streiten, das in Ihrem ganzen Leben so wichtig war, uns nicht mehr gelingt.

Ich sehe diese Echokammern auch – dass Leute in ihrer Blase sitzen und an ihrer Meinung festhalten. Woher soll denn eine Meinungsänderung kommen, wenn nicht durch Diskussionen? Für mich war die Meinungsbildung immer ein Prozess in vier Stufen: Information, Wissen, Erkenntnis, Haltung. Alle wichtigen Diskussionen meines Lebens waren durch sie geprägt, man wollte sich verstehen und dazulernen. Viele Menschen springen heute von der ersten Stufe, der reinen Information, gleich zur vierten, der gefestigten Meinung.

Networking wird auch als berechnend bezeichnet: Man knüpft Beziehungen, die einen später voranbringen sollen. Stimmt das, oder gehört mehr dazu?

Ich bin nun wirklich kontaktfreudig, aber ich war immer ein Gegner von Networking im Sinne einer berechnenden Kontaktaufnahme. Eine Verbindung soll spontan kommen, man soll sich gern unterhalten. Immer wenn ich gemerkt habe, dass jemand mit einer Agenda auf mich zukam, habe ich die Krallen ausgefahren. Bei dieser Art von Networking mit Hintergedanken geht so viel verloren und man gewinnt so wenig. Wenn wir in einer Welt leben, in der alle nur denken: „Was nutzt mir dieser Kontakt?“, dann ist keine Begegnung mehr echt. Ich bin Rheinländer, und wir haben einen schönen Spruch: Immer Mensch bleiben.

Der ehemalige Bundesfinanzminister und Bertelsmann­-Vorstand Manfred Lahnstein arbeitete in den 1960ern bei dem Vorläufer der EU in Brüssel, später unter Willy Brandt und Helmut Schmidt im Bundeskanzleramt in Bonn. Seit 1967 ist er Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.