Zahra beugt sich über vollgeschriebene Arbeitsblätter, oben rechts steht „Januar 2016“. Damals war Zahra gerade ein paar Monate zuvor aus Afghanistan geflohen. „In dem Diktat habe ich 16 Fehler gemacht“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Ich konnte damals gar nichts.“ Was unnachgiebig klingt. Aber wahrscheinlich muss man streng zu sich sein, um in so kurzer Zeit so viel zu erreichen wie sie. Und wenn man noch viel mehr erreichen möchte. Es ist ein Sommertag im Jahr 2020, draußen sind es über 30 Grad. Zahra sitzt im kühlen Souterrain der ZEIT-Stiftung in Hamburg Rotherbaum, neben ihr Samim, der ihre Fehler vom Anfang – und ihre späteren Erfolge – sehr gut kennt.
Der damalige Lehramtsstudent, inzwischen Lehrer, war fast vier Jahre lang der Mentor von Zahra und ihrer besten Freundin Ghazal. Das Projekt WEICHENSTELLUNG hat die drei zusammengebracht, es unterstützt Zuwandererkinder und -jugendliche beim Übergang von der Internationalen Vorbereitungsklasse in die Regelklasse und darüber hinaus. Jugendliche wie Zahra und Ghazal. Beide haben mittlerweile ihr Abitur. Zahra schloss im Frühjahr 2019 mit 1,8 ab, Ghazal 2020, Corona- Abitur, mit 2,3. Sie sind heute hier, um mit Samim über die vergangenen Jahre zu sprechen. Und darüber, wie sie das alles geschafft haben. Trotz aller Widrigkeiten und Widerstände.
Denn als die beiden Samim vier Jahre zuvor kennenlernten, sprachen sie kaum ein Wort Deutsch. Ghazal zog im Dezember 2015 mit ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland. Sie besuchte am Louise Weiss Gymnasium die Internationale Vorbereitungsklasse, ein Hamburger Modell für Schüler:innen, die kaum oder kein Deutsch sprechen. Weil die Schule am Programm WEICHENSTELLUNG teilnahm, bekam Ghazal einen Mentor, Samim. Mit zwei weiteren Mentees lernten Zahra und sie Vokabeln, übten Deutsch durch einfache Gespräche. Um in die Regelklasse zu wechseln, müssen alle Schüler:innen der Vorbereitungsklasse den Test für das Deutsche Sprachdiplom in der Ersten Stufe (Niveaustufe B1) bestehen.
Darin sollen sie etwa zeigen, dass sie andere begrüßen, einfache Unterhaltungen führen und eine E-Mail auf Deutsch schreiben können. Ghazal versuchte sich an dem Test schon im März 2016, nach nur drei Monaten in Deutschland. Sie fiel durch den schriftlichen Teil. „Ich war so enttäuscht“, sagt Ghazal, dann dreht sie sich zu Samim, „aber er war den ganzen Weg bei uns.“ Für Samim war es das erste Mal, dass er eine kleine Klasse unterrichtete. Er merkte schnell, wie unterschiedlich alle waren. „Wir Mentoren profitieren von dem Austausch genau wie die Mentees“, sagt Samim. „Denn so bunt durchgemischt sieht auch die Klasse der Zukunft aus.“
Vieles lernte er mit seinen Mentees zusammen: Ghazal habe am Anfang gar nichts im Unterricht gesagt, erinnert sich Samim. Bis er merkte, dass sie einfach ein anderer Lerntyp ist, dass sie die Antwort eigentlich wusste, aber Angst hatte, etwas Falsches zu sagen. Wenn er in Zukunft als Lehrer eine stille Persönlichkeit treffe, wisse er genau, dass er nicht zu versteift versuchen sollte, sie im Unterricht in Gespräche einzubinden. Besser Zeit geben, in der Stillarbeit an einer Aufgabe Selbstbewusstsein aufbauen, sagt Samim.
Zahra wollte von Samim schon vorher wissen, was der Stoff im nächsten Halbjahr sein würde. Zuerst aus Sorge, dass sie die Fachbegriffe, die die Muttersprachler:innen schon kannten, nachlernen müsste. Dann aus Neugier und Ehrgeiz. Bald brachte Samim ihr Bücher aus dem Biologiestudium mit. „Mir hat das so viel Spaß gemacht, vor allem Genetik begeistert mich. Und ich wusste, dass ich Medizin studieren will und es dafür brauche“, sagt Zahra. In Biologie hatte sie immer 15 Punkte, auch in der schriftlichen Abiturprüfung. Ghazal und Zahra mussten nicht nur Deutsch lernen und ihre Hausaufgaben machen, sondern zudem mit vielen Herausforderungen außerhalb der Schule umgehen.
Zahra kam mit 14 Jahren unbegleitet nach Deutschland, ihre Familie saß in einem Geflüchtetencamp in Griechenland fest. „Ich wollte meine Familie zu mir holen, aber ich wusste nicht, wie das geht“, sagt sie. „Ich konnte auch nicht im Internet suchen, an welche Behörde ich mich wenden muss, weil ich die deutschen Begriffe nicht kannte.“ Zahra erzählt davon ganz sachlich, als ginge es um ein logistisches Problem und nicht um eine Aufgabe, die für eine 14-Jährige eigentlich viel zu groß war. Samim kam selbst 1998 mit acht Jahren aus Afghanistan nach Deutschland. „Ich kannte diese Probleme, hatte Freunde, die ohne ihre Familie fliehen mussten“, sagt er.
Er fing an, für Zahra nach Ansprechpartner:innen zu suchen, half ihr, einen Anwalt zu finden, und spielte mit ihr die Gespräche durch, die sie später mit den Behörden führen würde. Auch wenn das eigentlich nicht zu den Aufgaben eines Mentors zählt. Aber er habe gemerkt, wie sehr sich die außerschulischen Probleme auf den Unterricht auswirkten, sagt Samim. Erwachsen sein, bevor man erwachsen ist Mit Samims Hilfe gelang es Zahra nach acht Monaten, ihre Familie nach Deutschland zu holen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon die Regelklasse des Gymnasiums erreicht. „Als wir die größten Probleme gelöst hatten, war Zahra im Unterricht viel konzentrierter bei der Sache“, sagt er.
Zahra nickt. „Es gab diesen psychischen Druck, der mich vorher daran gehindert hat, mich wirklich auf die Schule zu konzentrieren. Ich bin sehr dankbar, dass ich einen Mentor wie Samim hatte.“ Auch Ghazal bestand sechs Monate nach ihrem ersten Versuch mit seiner Hilfe den Sprachtest und durfte in die Regelklasse. Oberflächlich gesehen hatten es Ghazal wie auch Zahra nun geschafft. Aber selbst mit gutem Deutsch war der Weg zum Abitur für sie viel härter als für ihre Mitschüler:innen. Ghazal begleitet ihre Eltern noch heute zum Arzt oder auf Behördengängen, weil die kaum Deutsch sprechen. Sie erledigt den Papierkram der Familie, kümmert sich um die Steuererklärung.
„Ich fühle mich manchmal wie eine Sekretärin“, sagt Ghazal und lacht. Ein bisschen ernster sagt sie dann: „Am Anfang war es richtig schwer, gar keine Unterstützung von zu Hause zu bekommen.“ Als sie eine Physikprüfung im Vorabitur nicht bestand, weil sie das Wort „Mondsonde“ nicht kannte, schrie sie ihre Mutter an: „Warum sind wir überhaupt nach Deutschland gekommen? Ich werde mein Abi nie schaffen, und das ist alles eure Schuld!“ „Die beiden waren sehr früh gezwungen, erwachsen zu werden“, sagt Samim. Auch er hatte viel zu tun, schrieb gerade seine Abschlussarbeit. Und nahm sich trotzdem Zeit für lange Treffen und Telefonate, um Rat zu geben.
„Manchmal wusste ich gar nicht, wo ich mit meiner Hilfe anfangen sollte“, sagt Samim. „Eine Person kann auf Dauer nicht all diese Probleme lösen.“ Also überlegte er sich einen Plan: Er wollte die Mentees untereinander, auch über die Gruppen hinweg, vernetzen. So konnten sie sich gegenseitig stärken, weil sie ähnliche Probleme hatten. „Manche Herausforderungen sind zu groß, um sie allein zu meistern“, sagt er. Gemeinsam weiterkommen Samim nutzte die Kulturausflüge, die das Programm WEICHENSTELLUNG neben der schulischen Unterstützung fördert. Mit Ghazal, Zahra und den anderen Mentees besuchte er Museen wie das Bucerius Kunst Forum oder das Musical „Der König der Löwen“.
„Ich war so froh, unterwegs zu sein. Dort habe ich Deutsch zum ersten Mal im Alltag gehört und nicht nur in der Schule“, sagt Ghazal. „Ich habe gemerkt, dass die Mentees bei den Ausflügen endlich mit den Gedanken ganz woanders sein konnten, richtig befreit“, sagt Samim. Dieses Gefühl habe er später in den Unterricht mitnehmen können. Und Samims Plan ging auf. Heute sind Zahra und Ghazal beste Freundinnen, lernen noch immer gemeinsam. Ghazal zuletzt für ihre Abiturprüfung, Zahra für den TMS, den Test für Medizinische Studiengänge, der ihr helfen sollte, einen Studienplatz zu bekommen.
Dafür trafen sie sich auf Samims Rat hin jeden Tag in der Staatsbibliothek Hamburg. Die Bibliothek wurde für Zahra und Ghazal zum Ort, an dem sie nur für sich selbst sein konnten. Sie waren oft die ersten Besucherinnen – und die letzten. „Zu Hause in unserer kleinen Wohnung mit meinen Geschwistern ist es nie ruhig genug“, sagt Zahra. „Ich habe praktisch meine letzten drei Jahre in der Bibliothek verbracht“, sagt Ghazal. Obwohl Samim die Muttersprachen von Zahra und Ghazal, Farsi und Dari, beherrscht, sprach er mit ihnen nur Deutsch. „Am Anfang war das schwer, jetzt bin ich froh darüber“, sagt Ghazal.
Nach einem Jahr gab Samim ihnen vom Büchergeld des WEICHENSTELLUNG- Programms ein Synonymwörterbuch Deutsch- Deutsch. Ihre Fremdsprachenwörterbücher durften sie in der Oberstufe ohnehin nicht benutzen. „Dadurch bin ich noch besser geworden, weil ich nur noch auf Deutsch gedacht habe“, sagt Zahra. „Ohne WEICHENSTELLUNG würden sehr viele Kinder wie Zahra und Ghazal mit den Problemen in der Schule und im Alltag nicht zurechtkommen. Wir Lehrer würden sie verlieren“, sagt Samim. „Egal wie ehrgeizig und fleißig sie sind.“
Durch WEICHENSTELLUNG seien sie nicht nur durch die schweren ersten Jahre in Deutschland und näher an ihre Ziele gekommen, sagt Samim. Sondern auch viel stressresistenter geworden. „Ich weiß heute, dass ich selbst mit all den Schwierigkeiten, die ich damals hatte, fertig werden kann“, sagt Zahra, und sie klingt stolz. In einer Zeit voller Krisen ist das vielleicht die wertvollste Lektion.
WEICHENSTELLUNG ist das bundesweite Mentoring-Programm der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Es umfasst die drei Bausteine: WEICHENSTELLUNG für Viertklässler, WEICHENSTELLUNG für Zuwandererkinder und -jugendliche und WEICHENSTELLUNG für Ausbildung und Beruf.
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