Schon bevor die Scheinwerferlichter auf die Bühne fielen, wurde es still im Hamburger Schauspielhaus. Unter den großen, bunten Kuppeln hatten sich zum 22. Mal hunderte Gäst:innen versammelt, um bei der Verleihung des Marion-Dönhoff-Preises dabei zu sein – und die gespannte Stille zu Beginn sollte symbolisch werden für einen Vormittag, an dem die Worte auf der Bühne noch lange nachhallten.
Ausgezeichnet mit dem von uns als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, DIE ZEIT und der Marion Dönhoff Stiftung verliehenen Preis für internationale Verständigung und Versöhnung wurden in diesem Jahr der israelische Autor David Grossman (Hauptpreis) und die internationale Hilfsorganisation „World Central Kitchen“ (Förderpreis). Beide Preise sind mit je 20.000 Euro dotiert. Die Laudatio auf den Preisträger Grossman hielt die Schauspielerin Iris Berben; die Köchin und ehemalige EU-Abgeordnete Sarah Wiener ehrte in ihrer Laudatio die Arbeit von World Central Kitchen. Musikalische Untermalung kam von den Musikern Nuron Mukumi am Klavier und Alexey Stadler am Violoncello; moderiert wurde die Verleihung von der Journalistin Julia-Niharika Sen.
Der Jury falle es unter vielen Vorschlägen zunehmend schwer, Preisträger:innen auszuwählen, so ihr Vorsitzender Matthias Naß in seiner Begrüßungsrede. Denn Versöhnung und Verständigung würden immer dringender. Orientierung für die Auswahl lieferten jedoch auch im 22. Vergabe-Jahr die Maßstäbe der Namensgeberin des Preises, Marion Gräfin Dönhoff. Die ehemalige ZEIT-Chefredakteurin sei vom „Willen zur Veränderung ausgezeichnet gewesen“, so der heutige ZEIT-Chef Giovanni di Lorenzo in einem Film-Einspieler, und vom Willen „Missstände zu überwinden“.
Für Tatkraft und Mitmenschlichkeit – Förderpreis geht an World Central Kitchen
Dieses Ziel verfolgt auch die von Sternekoch José Andres und seiner Frau Patricia gegründete internationale Hilfsorganisation „World Central Kitchen“. Die Organisation ist seit Jahren in Kriegs- und Katastrophengebieten unterwegs und versorgt Menschen mit Nahrung, derzeit unter anderem in Gaza. 80 Millionen Mahlzeiten hat die Organisation bis heute in Zusammenarbeit mit lokalen Küchen zubereitet und verteilt, seit dem 7. Oktober auch fast zwei Millionen Mahlzeiten in Israel. „Wenn man hungert, kann man über gar nichts nachdenken“, beschrieb Sarah Wiener in ihrer Laudatio die Situation jener Menschen, die in ihren Grundbedürfnissen erschüttert sind. Essen sei Identität, vielleicht sogar „die Keimzelle der Demokratie“, so die Köchin. Dazu ist die Arbeit der Hilfsorganisation herausragend wichtig, aber auch lebensgefährlich: Am 1. April 2024 wurden sieben Mitarbeiter:innen von World Central Kitchen bei einem Angriff der israelischen Luftwaffe im Gazastreifen getötet, Anfang Dezember starben drei weitere unter noch ungeklärten Umständen. Nach kurzer Unterbrechung hat die Hilfsorganisation trotz allem entschieden, ihre Arbeit in Gaza fortzusetzen. „Alle Helferinnen und Helfer sind das Rückgrat und das Herz von World Central Kitchen“, so Wiener.
Versorgung in Kriegsgebieten und von Flüchtenden: „In dieser Tasse war Hoffnung“
Den Förderpreis nahmen die Sprecherin von World Central Kitchen, Linda Roth, und die ukrainischen Kitchen-Mitarbeiterinnen Yuliia Vysytska und Irina Lytvynchuk entgegen. Auch in der Ukraine ist die Organisation seit Ausbruch des russischen Angriffskriegs aktiv. Das Ziel der Kitchen sei immer dasselbe, so Roth: „Den betroffenen Gemeinden warme, nahrhafte und kulturell angepasste Mahlzeiten zu servieren, und zwar mit Dringlichkeit, aber auch mit Würde“. Sie täten dies, indem sie Schulter an Schulter mit lokalen Communitys vor Ort zusammenarbeiten. In Gaza seien es Nachbar:innen, die einander bekochten, auch nach den Angriffen auf die Kolleg:innen, denn sie wollten Menschen vor Ort helfen. „Wir kommen nicht von oben herab mit einem ,Einheitsplan‘ oder denselben Rezepten für jede Hilfe. Essen und Trost durch vertraute Geschmäcker und Gerüche können einem zerstörten Menschen das Gefühl von Heimat zurückgeben. Selbst wenn ihr Zuhause in Trümmern liegt, Hunderte von Kilometern entfernt ist oder ein Ort ist, den sie vielleicht nie wieder sehen werden.“
Neben Plündereien und Kriminalität sei das größte Problem der Nahrungsmangel, so Roth. Ein Kilogramm Mehl könne in Gaza derzeit bis 120 US-Dollar kosten. Elektrizität- und Wassermangel sind auch in der Ukraine die größte Herausforderung in der Versorgung, so Kitchen-Mitarbeiterin Julia. Ihre Kollegin Irina Lytvynchuk hielt eine Tasse der Organisation in den Händen und beschrieb ihre eigene Ankunft nach der Flucht aus dem Kriegsland: „Mir wurde klar, dass in dieser Tasse nicht nur ein Kakao war, sondern die Fürsorge, die Unterstützung, die Freundlichkeit. In dieser Tasse war die Hoffnung“.
Frieden ist die einzige Option: Hauptpreis für den Schriftsteller David Grossman
Über Hoffnung sprach auch die Laudatorin des Hauptpreises für David Grossman, Schauspielerin Iris Berben. Sie hielt die Rede für den Schriftsteller, der seit Jahrzehnten eine kritische Stimme im Nahostkonflikt ist, besonders aber für den Dialog zwischen Israelis und Palästinenser:innen steht, – auch und gerade seit dem terroristischen Angriff der Hamas und dem Gaza-Krieg nach dem 7. Oktober 2023. „In seinen Werken spiegelt sich die Zerrissenheit einer ganzen Generation wider, die ständig von Gewalt bedroht ist und selbst Gewalt ausübt (…)“, so Berben. „Grossman beschreibt die lähmende Komplexität des Konfliktes, ja, er weiß um die Verletzungen und das tiefe Misstrauen in den Köpfen der Menschen“, sagte die Schauspielerin im Hamburger Schauspielhaus. „Er sieht, wie sich die Gesellschaft auf beiden Seiten radikalisiert, wie die Herzen hart werden und jeglicher Dialog in weite Ferne rückt. Von Frieden ganz zu schweigen. Doch Moment: Es gibt da etwas, dass David Grossman niemals tut – und das ist Schweigen.“ Stattdessen ging Berben auf Grossmans Schriftsammlung „Frieden ist die einzige Option“ ein und überschrieb damit quasi die Preisverleihung: „Das war und ist [David Grossmans] Botschaft (…). Eine Botschaft, die man für naiv halten könnte, entspränge sie nicht der zutiefst realistischen Erkenntnis, dass der Krieg nur Verlierer hervorbringt.“
„Angst zu haben, misstrauisch, konkurrierend und rachsüchtig zu sein, ist einfacher, als Gutes zu tun“
Nachdem er im Anschluss die Bühne betreten hatte, legte der Preisträger Grossman seine mehrseitige, im Detail vorbereitete Rede kurzerhand beiseite. Er wolle keine Vorlesung geben, so der Autor, sondern aus dem Herzen sprechen. So schilderte er eindrücklich die Geschichten und Beweggründe hinter seiner Arbeit, die seit jeher für kritische Auseinandersetzung und Verständigung zugleich steht („Besatzungsregime und Demokratie, das passt nicht zusammen“, so hatte Matthias Naß ihn zitiert). Man sei im Konflikt gefangen im selben Ethos und Geschichten, die Menschen sich selbst erzählen, so Grossman. „Wir brauchten große, mythologische Geschichten davon, wie wir unsere Feind:innen besiegt haben, und wir die Guten und sie die Bösen sind. So oft werden wir dann aber zu Gefangenen unseres eigenen Ethos (…). Wir sehen den Preis nicht, den wir [dafür] zahlen, die Realität nicht noch aus noch einem anderen Blickwinkel zu sehen, um die Freude der Veränderung zuzulassen.“
Grossmans Werk schließt auch persönliche Rückschläge ein – wie den Verlust seines Sohnes 2006 im Libanon-Krieg. Und dennoch: „Ich kann mir den Luxus der Verzweiflung nicht erlauben“, so der Autor. „Es ist immer einfacher, an der Realität zu verzweifeln, (…) in meinem Land, und ich will nicht Teil davon sein. Es ist nicht leicht, in unserer extremen Realität man selbst zu bleiben. Denn Angst zu haben, misstrauisch zu sein, konkurrierend zu sein, rachsüchtig zu sein, ist viel einfacher als Gutes zu tun.“ Er möge es stattdessen, naiv zu sein, so Grossman. Nicht töricht naiv, sondern kalkuliert und vernünftig naiv. Es sei bedeutsam, „zu verstehen, dass Naivität eine große Macht ist, weil sie die Menschen antreibt und sie dazu bringt, Dinge zu ändern und sich in einer Realität zu bewegen, die erstarrt und unbeweglich ist. (…) Nein, ich will mich wirklich all diesen Gefahren aussetzen, denn nur wenn ich mich ihnen aussetze, kann ich mich bewegen, Dinge entfachen und anders machen. Das ist übrigens das Herz der Literatur.“
Der Marion-Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung wird jährlich gemeinsam von uns als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, DIE ZEIT und der Marion-Dönhoff-Stiftung verliehen. Der Hauptpreis geht an eine besondere Persönlichkeit, die sich in ihrem (Lebens-)Werk für Zusammenhalt und Dialog einsetzt. Den Förderpreis erhält in jedem Jahr eine wohltätige Organisation. Zu den Preisträger:innen der vergangenen Jahre zählten unter anderem die Memorial-Gründerin Irina Scherbakowa und die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Kaja Kallas. Unter den mit dem Förderpreis ausgezeichneten Organisationen waren die Hamburger Tafel und die Organisation Hawar.help. Laudationes hielten in den vergangenen Jahren der Bundeskanzler Olaf Scholz oder die Journalistin Natalie Amiri. Mehr zum Marion-Dönhoff-Preis lesen Sie hier.