Über unseren Stifter Gerd Bucerius sagt man, er sei einst als „Fanatiker der Freiheit“ bezeichnet worden. So zitierte ihn Prof. dres. h.c. Manfred Lahnstein, ehemaliger Vorsitzender des Kuratoriums der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, in seiner Begrüßung bei der ersten Hamburger „Bucerius Lecture“. Zu diesem Anlass hatten sich nahezu 250 Gäst:innen im Auditorium der Bucerius Law School versammelt, die sicher nicht als Fanatiker:innen bezeichnet werden können, zumindest aber als leidenschaftliche Verteidiger:innen der Freiheit – allen voran der Ehrengast des Abends, der bekannte Yale-Professor und gefeierte Bestseller-Autor Prof. Timothy Snyder.
Theorie, Kultur und Diskussion aus der Praxis: Das war die „Bucerius Lecture“
Für Timothy Snyder ist Freiheit der „Wert aller Werte“, so schreibt er es auch in „Über Freiheit“, seinem neuesten Buch. Daraus zitierte er in seiner rund dreißigminütigen Keynote und im anschließenden Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, Manuel Hartung.
„Freiheit ist mit allem verbunden, was uns etwas bedeutet“
Auf der Bühne hob Timothy Snyder zuvor die grundlegende Bedeutung von Freiheit hervor. „Freiheit ist der Wert, mit dem wir uns am meisten auseinandersetzen sollten“, so der Bestseller-Autor. Nicht weil sie besser sei als andere Werte, sondern weil auf ihr alle Werte fußen, über die eine Gesellschaft debattiert. „Ich glaube nicht, dass Freiheit eine Idee ist, die sich von anderen Ideen oder von der Praxis abgrenzt. Was ich vielmehr sagen möchte, ist: Freiheit ist mit allem verbunden, was uns etwas bedeutet“, so Snyder.
Was umfasst der Begriff „Freiheit“ wirklich?
Dennoch bleibe Freiheit eines der komplexeren Konzepte – und werde oft missverstanden oder ungenügend interpretiert. Der Begriff bedinge längst nicht nur die Beseitigung des „Bösen“, sondern explizit auch die Präsenz des Positiven. Als Beispiele hierfür nannte der Wissenschaftler die Unterschiedlichkeit von „Befreiung“ und „Freiheit“, zum Beispiel in Bezug auf die Befreiung der Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg, wo trotz Befreiung elementare Einschränkungen durch Leid und Trauma zurückblieben. Ähnliche Parallelen zog Snyder zu Bereichen der „De-Okkupation“ in Kriegsgebieten der Ukraine, wo Snyder selbst mehrfach geraume Zeit verbracht hat. Auch hier reiche die „Abwesenheit“ von Gräueltaten des Krieges nicht aus, um von „Freiheit“ sprechen zu können. Der Yale-Professor Snyder lieferte im Gegenzug an diesem Abend zahlreiche eigene Definitionen von Freiheit, vor allem aber die „philosophische“ und „körperliche“. In der philosophischen Definition von Freiheit gebe es ihm zufolge drei Grundpfeiler: Der moralische Realismus, dass es „gute“ Dinge gebe, aber auch den pluralistischen Gedanken, dass mehrere Dinge gleichzeitig gut sein könnten, auch wenn sie einander widersprechen. Letztlich bindend für die philosophische Definition von Freiheit sei aber eben auch, dass eine Art „moralische Geometrie“ diese guten Dinge in kein Größenverhältnis zueinander setze. Menschen kämen schlichtweg nicht darum herum, selbst in einem Moment subjektiv Werte zu definieren und zu entscheiden, welche sie als wichtig festlegen würden.
Vieles dessen, was wir über Freiheiten debattierten, habe nichts mit dem Menschen selbst zu tun, sagte Snyder, der Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen ist, auch in seinem an die Keynote anschließenden Gespräch mit Manuel Hartung. Für ihn spielt deshalb die „körperliche“, dem Menschen nahe Definition von Freiheit ebenso eine Rolle. „Freiheit muss auf den Wesen basieren, die wir [als Menschen] sind. „Es mag wie ein simpler Punkt erscheinen, aber es spielt eine große Rolle, dass wir alle geboren und sterben werden, weil wichtig ist, dass wir genau das alle gemeinsam haben“. Er führte weiter aus: „Diese Dinge gelten nicht für Maschinen oder für Algorithmen, aber für uns. Wenn wir das ernst nehmen, erreichen wir eine viel realistischere Definition von Freiheit.“
Die Chance der „positiven Freiheit“
Snyder sprach im Zuge dessen auch ausführlich über die Unterschiede von „positiver“ und „negativer“ Freiheit, da letztere den öffentlichen Diskurs dominiere. Wer Freiheit nur negativ sehe, zerstöre ihren Wert im moralischen und politischen Kontext. Positive Freiheit hingegen löse Snyder zufolge viele Probleme, zum Beispiel, weil sie die Präsenz einer Regierung legitimiere: „Es braucht viel politische Arbeit, um Menschen frei zu machen“. Außerdem löse positive Freiheit den vermeintlichen, oft verkündeten Clash von Freiheit gegenüber Wünschen nach Sicherheit, oder die vermeintlichen Gegensätze von Individuen und der gemeinschaftlichen Gesellschaft, und zwischen Vergangenheit und Gegenwart. „Wer glaubt, dass Freiheit nur negativ ist, steckt für immer in der Gegenwart fest, im Kampf von ,Ich gegen die Regierung‘. Von dort aus ist es ein sehr kleiner Schritt zum Kampf von ,Ich gegen meine Nachbar:innen‘, gegen Menschen, die anders denken, oder ,Ich gegen die Migrant:innen‘. Von dort aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Auseinandersetzung ,Ich gegen die Fakten, gegen die Wahrheit‘. Man sieht nur noch mehr Einschränkungen für sich selbst. Je eher man sich versieht, wird man zur Faschist:in.“ In dieser Politik, so schlussfolgert Snyder, der seine Lecture mit dem Titel „The Future of Freedom“ überschrieb, gebe es keine Zukunft, sondern nur ein ständiges „wir“ und „die Anderen“. Für Menschen, die an die positive Freiheit glauben, ergäben sich jedoch viel mehr Handlungsspielräume – und damit auch ein Programm für die Zukunft. „Ich weiß dann: Ich glaube an gute Dinge und kann mir eine moralische Figur ausmalen, zu der ich werden möchte“, sagte Snyder, „und als politischer Bürger kann ich sagen: Es wird immer Dinge geben, die wir tun können, um Bedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen frei sein können.“
Eingeleitet wurde der Abend von musikalischem Programm der beiden Stipendiatinnen und Preisträgerinnen der von uns geförderten Deutschen Stiftung Musikleben, Johanna Elisabeth Bufler am Klavier und Youbien Lee am Violoncello. Im Anschluss an die Theorien und Gedanken Snyders hatten Gäst:innen die Gelegenheit, ihre persönlichen Gedanken zu Freiheit in den verschiedensten Lebensbereichen mit anderen auszutauschen. Dafür kamen einige Partner:innen aus unseren Förderprojekten an Thementischen mit den Zuschauer:innen zusammen, darunter zum Beispiel Stipendiat:innen unserer Stipendien für Darstellende Künste, Engagierte von dem Hamburger Ausbildungssender „TIDE“, der Stiftung Bürger für Bürger in Halle, die mit „Zukunftswege Ost“ demokratische Freiräume in den ostdeutschen Ländern schaffen, oder dem Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (e.V.), die in Workshops mit Schüler:innen arbeiten und gegen Diskriminierung sensibilisieren.
Die gesamte Lecture können Sie HIER auf YouTube streamen.
Für uns als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS hat Timothy Snyder mit seinen Freiheitsdefinitionen viele Themen angesprochen, die unter unseren Leitsatz fallen, auch in 2025 weiter aufrichtig zu streiten, entschlossen zu handeln und dabei die grundlegenden Definitionen von Freiheiten zu verteidigen. Mehr zu unseren aktuellen Projekten und Initiativen für das neue Jahr finden Sie hier.