VON ROLAND RÖDERMUND
Was bedeutet das heute, „auf dem Land leben“? Die einen haben eine romantische Vorstellung vom ursprünglichen Leben. Die anderen wollten in „so ’nem Kaff nicht mal tot überm Zaun hängen“ – für sie ist das Gras immer grüner im Stadtpark. Dabei sind die dünn besiedelten Regionen fern der Städte nie nur Bullerbü oder Lost Place.
Und die Menschen, die hier leben? Die sagen oft „Na, wir haben eine sehr schöne Landschaft.“ Das ist das Pfund, mit dem ländliche Regionen gern wuchern. Warum auch nicht? Doch in vielen Gegenden wurde jahrzehntelang nicht hinterfragt, wie man mit ihr umgeht. Sie wurde möglichst gewinnoptimierend gerodet, beackert, gedüngt, geschröpft oder, wenn sie nicht landwirtschaftlich genutzt werden konnte, ignoriert. Das haben wir hier schon immer so gemacht.
Doch angesichts der großen Herausforderungen ist revolutionäres Denken und Handeln gefragt. Weil ein Hektar Land nicht nur ertragreiche Produktionsfläche oder nur schöne Märchenlandschaft ist. Er ist ebenso Lebensraum für unzählige Arten und Identifikationsfläche für die Menschen. Deshalb muss man lernen, die Landschaft wieder mit anderen Augen zu sehen, sich ihr hinwenden, sie gestalten, umwandeln, um sie schützen zu können. Und genau das tun die Menschen, die in ländlichen Regionen leben, heute immer mehr – Ideen, Projekte und Lebensmodelle sprießen wie Pilze aus dem Boden. Von Grenzgänger:innen, die Ressourcen neudenken oder Arten finden, sich mit anderen dort zu begegnen und zu vernetzen, wo es drauf ankommt: mitten in der Natur. So werden gemeinsam neue Wege beschritten, um grünes Wachstum zu fördern.
Und resilient ist eine Region dann, wenn ihre Bewohner:innen gegenüber der Veränderung offen sind und doch ihre Eigenarten oder ihre Identität bewahren. Resilienz entsteht, wenn sich die Menschen in dieser Landschaft begegnen, um sie für die Zukunft krisensicher zu gestalten – Menschen wie Uta Berghöfer, Gunter Kramp, Maria Wahle und Julia Nissen.
IM MECKLENBURGISCHEN MALCHIN kommen bei moderierten Spaziergängen auch die Menschen miteinander ins Gespräch, die sich früher eher ungern zuhörten. Initiatorin Uta Berghöfer erzählt, wie man sich in der Region gemeinsam auf den Weg Richtung Zukunft macht.
Die Idee war aus einer Not heraus im Herbst 2020 entstanden. „Eigentlich wollten wir unser nächstes Netzwerktreffen machen“, erzählt Uta Berghöfer, „es war aber leider noch Lockdown.“ Sie und ihre Mitstreiter:innen taten damals, was alle taten: Sie verabredeten sich in kleiner Gruppe zum Spaziergang mit Abstand – und fragten sich schnell, wieso sie da nicht vorher drauf gekommen waren: „Wir merkten sofort, wie gut es tat, die Schreibtischperspektive zu verlassen, den Blick zu weiten und uns genau da zu treffen, wo es am sinnvollsten ist, über unsere Moorlandschaft zu sprechen.“ Die Idee von moderierten Themenspaziergängen war geboren – durch eine Landschaft, an der sich Konflikte entzünden. Aber in der sich eben auch ganz viele Interessen bündeln lassen – von Naturschützern, den Wasser- und Bodenverbänden, Bauernverbänden, Forstbetrieben…
Für die Landschaftsökologin (46) spiegeln sich nicht nur die großen Fragen unserer Zeit in dieser Landschaft wider. Auch, welche Entscheidungen wir Menschen treffen, lässt sich an ihr ablesen: An den Solarfeldern und Windrädern überall, wie wir Energie gewinnen. An den Monokulturen, wie wir Landschaft begreifen. „Mit Landschaft meine ich nicht die unberührte Natur, wie sie sich viele vorstellen“, sagt sie, „sondern die Verbindungen und Interaktionen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen in einem bestimmten Raum.“
Man muss wissen, dass die Moore in Malchin nicht nur als Identifikationsfläche für die Leute oder den Tourismus eine große Rolle spielen. Auch in Sachen Klimaschutz rückt die Region in der Mecklenburgischen Schweiz, wo in der Vergangenheit viele Moore zur Gewinnung landwirtschaftlicher Flächen trockengelegt wurden, immer mehr in den Fokus, etwa durch ein Schutzkonzept der Landesregierung. Es heißt, dass von etwa 300.000 Hektar, die in vergangenen Jahrhunderten in Mecklenburg-Vorpommern trockengelegt wurden, ein Drittel der Treibhausgas- Emissionen des Landes ausgeht. Damit ist die Emission aus den Moorgebieten die größte Treibhausgas-Einzelquelle des gesamten Bundeslandes – gleichzeitig gibt es keine besseren Treibhausgas-Speicher als intakte Moore.
Ein Weg wäre, die Emission durch Wiedervernässung zu verringern, da feuchte Moore CO2 binden. „Wasser ist für uns alle das verbindende Element“, sagt Uta Berghöfer. „Somit sind die Wasser- und Bodenverbände auch zentral, da sie die ganze technische Infrastruktur betreuen, die sowohl für Entwässerung als auch Wiedervernässung notwendig ist.“ Natürlich kann man nicht alle Moore aus der landwirtschaftlichen Produktion nehmen und auf das Land verzichten – doch die Pflanzen, die in feuchten Mooren wachsen, sind sehr gut energetisch nutzbar, man kann sie pelletieren, Biogas gewinnen. Schilf und Rohrkolben lassen sich als stabile, leichte und extrem schnell wachsende Pflanzen hervorragend als Rohstoffe, etwa als ökologische Bau- oder Dämmstoffe, einsetzen. „Dafür müssten mehr Flächen zur Verfügung gestellt werden. Startups könnten sie als Experimentierraum begreifen und zusammen mit Landwirten und Landeigentümern Dämmstofffabriken oder andere innovative Dinge an den Start bringen“, so Berghöfer.
Sie weiß, wie wichtig es ist, eine Brücke zwischen den verschiedenen Interessensgruppen zu schlagen, sich gegenseitig immer wieder Denkanstöße über nachhaltiges Leben und Wirtschaften zu geben, damit solche Fabriken nicht nur Fantasiegebilde bleiben. Kreative Wege geht sie selbst dafür schon länger: Sie war Teil des Zukunftsrates, der auf Initiative der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern bereits Menschen aus unterschiedlichen Bereichen – Umweltschutz, Wissenschaft, Ökologie, Wirtschaft oder Soziales – zusammenbrachte, um Lösungen zu finden.
Als Wahl-Malchinerin betreibt Uta Berghöfer mit ihrem Mann als Teil einer Eigentümergesellschaft darüber hinaus den „Moorbauer“ – ein traditionsreiches, paradiesisch mitten im Schilf verstecktes Restaurant, das man nur per Boot, Rad oder zu Fuß erreicht, und das nur für drei Monate im Jahr geöffnet ist. Ein Ort für solidarische Gastronomie. Auch das „Moortheater“ organisiert sie als Kreativproduzentin – das ist ein mobiles und partizipatives Landschaftstheater für und von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Laien wie professionellen Theatermacher: innen. Und es bringt den Menschen hier über Inszenierungen die Moorlandschaft Malchins und seine Belange und Geschichten näher.
Die Spaziergänge sind inzwischen eine feste Größe in Malchin. Dabei kommen um die 15 Expert:innen aus den verschiedenen Bereichen und aus der Region zusammen – wichtig war von Anfang an, allen Beteiligten klarzumachen, dass hier nicht ein:er die anderen überzeugen will, sondern dass man die vielfältigen Probleme gemeinsam denken muss. Auf der mehrstündigen Spazierstrecke gibt es somit verschiedene Stationen mit Vorträgen – im Wald vom Forstamtsleiter, am Feld vom Landwirt oder am Deich von der Geschäftsführerin des Wasser- und Bodenverbandes. Immer öfter sind auch behördliche Vertreter:innen, etwa aus dem Landwirtschaftsministerium, dabei. „Wir möchten nicht nur durch die schöne Gegend laufen, sondern, dass unsere Themen auf Landes- oder sogar Bundesebene Gehör finden", sagt Uta Berghöfer.
Natürlich gebe es etliche Komplikationen. Etwa dass beim Klimaschutz die Maßnahmen oft nicht bis zum Eigentümer oder Flächennutzer zurückgedacht werden, oder dass Ergebnisse aus Netzwerkrunden oft verpufften, weil die lokale und Landesebene getrennt voneinander agierten. Dass die nötigen Veränderungen nicht von heute auf morgen geschehen können, weiß sie. Aber sich gemeinsam auf den Weg zu machen, weil man verstanden habe, dass man einander auf diesem Weg brauche, statt in Konkurrenzposition zu verharren, sei ein wichtiger erster Schritt.
FABIAN SIEVERS MÖCHTE DEN TRÜFFELANBAU in seiner Heimat Alfeld in Niedersachsen kultivieren. Nicht nur für die Gaumen der Menschen, sondern auch für die Böden – und nicht zuletzt für die Identität einer ganzen Region.
Er wollte Pilzsachverständiger werden, nun ist er sogar Edelpilzsachverständiger. Fabian Sievers (50) baut in seiner niedersächsischen Heimat Trüffel an. Trüffelanbau ist ein Risikogeschäft und man braucht einen langen Atem. Doch der lohnte sich: In den vergangenen beiden Jahren konnte er endlich fette Ernte einfahren. Hier erzählt er, weshalb er immer noch belächelt wird. Und das, obwohl nicht nur die Böden der Region profitieren würden, wenn es mehr Edelpilz-Pionier:innen wie ihn gäbe.
„Ich bin und war schon immer der totale Natur-Fan. Nachdem ich meinen Beruf in der Logistikbranche 2011 hingeworfen hatte, stand schnell fest, dass ich Pilzberater werden wollte. Ich besuchte Fortbildungen, machte Exkursionen und stieß dabei auf die heimischen Trüffel in meiner Heimatregion – was kaum jemand weiß: Durch den Muschelkalk- Boden ist das hier eine wahre Hochburg. Trüffel wurde früher im großen Stil von Alfeld sogar ans französische Königshaus geliefert! Die Tatsache, dass man die Symbiose von Pilz und Baum, die so genannte Mykorrhiza, auch künstlich hervorrufen kann – also die Natur quasi imitiert – war für mich dabei auch wahnsinnig spannend.
2011 gründete ich mein Unternehmen Leinebergland-Trüffel. Heute berate ich auch andere Landwirte und lebe davon, dass ich Trüffelbäume produziere. 2012 dann hatte ich meinen ersten Hektar Land, da stand damals gerade Getreide drauf, es war ein konventioneller Acker. Dort pflanzte ich dann um die 600 Bäume aus meiner Baumschule: ein- bis zweijährige Setzlinge von Haselnusssträuchern, Linden, Eichen, Buchen, Hainbuchen oder Schwarzkiefern. Man kultiviert die Mykorrhiza, nicht den Baum. Das bedeutet: Ich brauche keine Pestizide, keinen Dünger, keinen Traktor. Ich lasse den Boden hier komplett in Ruhe und sehe zu, dass da alles so läuft, wie in der Natur. Im Nu veränderte sich die Fläche. Und es tat sich einiges: Würmer, Hirschkäfer, alle möglichen Nager und Vögel, Füchse und Dachse – und sogar Wildkatzen kamen her. Die dürfen alle hier sein, denn sie zeigen mir, dass sich das Stück Natur hier erholt hat. Immer an meiner Seite und wichtigstes Mitglied im Unternehmen ist meine Trüffelhündin Woopee, eine Lagotto Romagnolo-Hündin – und einfach das beste Trüffelschweinchen.
2019 erntete ich endlich die ersten Fruchtkörper. Als sich das mit den deutschen Trüffeln aus Alfeld herumgesprochen hatte, meldeten sich nicht nur Luxusrestaurants, sondern auch die heimische Gastro. Los wird man die immer! Wenn aber ein Koch aus Hamburg oder Hannover meine Trüffeln haben will, dann soll er nach Alfeld kommen. Ich verschicke sie nicht per Express und in Plastik eingepackt, man soll sich ja auch für die Geschichte interessieren.
Die letzten beiden Jahre waren sehr gute Trüffel-Jahre. Leider hinken wir in Deutschland gegenüber unseren europäischen Nachbarn ziemlich hinterher, die Knollen stehen auf der Roten Liste, weshalb das Wildsuchen verboten ist. Und auch beim Anbau sind wir in der absoluten Anfangsphase, wir könnten hier in der Region 50 Hektar Trüffelacker haben, wenn sich ein paar Landwirte mehr bereit erklären würden, einen oder zwei Hektar ihrer Flächen dafür zu nutzen. Aber sie haben Angst davor, eine Dauerkultur anzulegen, von der man eventuell erst sechs, acht oder zehn Jahre ernten kann und pflanzen stattdessen den Mais für ihre Biogasanlage in den Muschelkalk-Boden. Viele tun Trüffel natürlich als Schickimicki-Essen ab, das keinem was bringt. Ich werde oft belächelt oder ungläubig angeschaut. Trüffel? In Niedersachsen? Der ist ja verrückt!
Ich bin auf jeden Fall so eine Art Trüffelbeauftragter, der sich dafür einsetzt, dass Landwirtschaft, Gastronomie und auch die Verbraucherseite verstehen lernen, dass es nicht nur die weißen Albatrüffel für fünf Euro das Gramm gibt, sondern auch unsere Burgunder-Trüffel, unsere heimische und wertvollste Art. Mein größter Traum wäre es, dass es die bald auf den Wochenmärkten gibt – für alle bezahlbar. Da hätte man dann für einen Zehner genug für seine Tagliatelle – und wir wären Trüffel-Region. Das wäre doch identitätsstiftend und würde die Region aufwerten. Und natürlich auch die landwirtschaftlichen Flächen.
Bisher ist außer einem Schulterklopfen seitens der Stadt noch nicht viel passiert. Ich beliefere ein paar kleine Bioläden und es gab mal „Alfelder Trüffelbutter“ im größeren Supermarkt. Als der „Trüffel-Papst“ Gérard Chevalier, der über dreißig Jahre lang den Großteil der Trüffelbaum- Produktion in Frankreich kontrolliert hat, vergangenes Jahr hier war, ist er fast vom Stuhl gefallen: „Was ihr hier an Böden habt, das ist einmalig in Europa!“ Ich würde mich sehr freuen, wenn das langfristig nicht nur ein Experte aus Frankreich kapiert, sondern auch der hier ansässige Landwirt!“
Bild: ©Florian Seeber
DAS ACKERSYNDIKAT IST EIN VEREIN, der dem spekulativen Markt Land und Höfe entziehen möchte. Die Flächen sollen stattdessen den Menschen gehören, die sie vor Ort nachhaltig und selbstorganisiert bewirtschaften. Gunter Kramp und Maria Wahle setzen sich gegen Bodenspekulation und für eine gemeinwohlorientierte Landwirtschaft ein.
Das Ackersyndikat ist aus dem schon länger bestehenden Mietshäusersyndikat hervorgegangen, das als nicht-kommerziell organisierte Beteiligungsgesellschaft bezahlbaren Wohnraum schafft. In einer Zeit von Gentrifizierung, Mangel an bezahlbarem Wohnraum und der riesigen Nachfrage nach Immobilien als einigermaßen sichere Geldanlage bildet es damit eine soziale Alternative auf dem Wohnungsmarkt. Diese Ziele überträgt das Ackersyndikat auf die Landwirtschaft: Höfe sollen selbstorganisiert, dezentral und solidarisch finanziert dauerhaft dem Markt entzogen und als kollektive Eigentümer, so genannte Commons, gesichert werden. Dazu werden landwirtschaftliche Immobilien gekauft oder über außerfamiliäre Hofübergaben übernommen. Die Pächter:innen werden dann ihre eigenen Verpächter:innen, um auf den Höfen günstig zu leben und unbefristet und selbstbestimmt wirtschaften zu können. Gunter Kramp (50), Berater für gemeinschaftsgetragene Unternehmen, ist Mitbegründer der Solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi) Marburg und im Vorstand des Ackersyndikats, die Gärtnerin Maria Wahle (35) lebt seit kurzem mit fünf anderen Menschen auf einer alten Mühle in Dorndorf-Steudnitz bei Jena – dem ersten Hofprojekt, das offiziell in das Ackersyndikat aufgenommen wird. Hier erzählen sie von der Idee des Ackersyndikats – aber auch den Herausforderungen.
Wie unterscheidet sich das Ackersyndikat von dem herkömmlichen System aus Erben, Verkaufen und Verpachten?
GUNTER KRAMP: Im Ackersyndikat gehört sich eine Immobilie quasi selbst. Sie wird aber von allen Nutzer:innen gemeinsam verwaltet, also hat niemand von ihnen daran Eigentum, aber alle sind Mitglied in einem Hofverein. Der Hofverein und das Ackersyndikat sind die Gesellschafter einer GmbH, die Eigentümer der Immobilie ist. Deren Geschäftsführung stellt der Hofverein. Das heißt, die Nutzer: innen können wie Eigentümer:innen alltägliche Sachen entscheiden. Da redet ihnen niemand rein, auch das Ackersyndikat in der Regel nicht … MARIA WAHLE: … es sei denn, bei einer drohenden Re-Privatisierung. Falls wir irgendwann mal unseren Hof an unsere Kinder vererben möchten oder auf die Idee kämen, ihn auf dem Immobilienmarkt zu verscherbeln, würde sich das Ackersyndikat dagegenstellen. Die Fläche soll ja auch dann weiterhin ökologisch betrieben werden, wenn wir nicht mehr da sind. Dann würde es halt ein anderes Kollektiv geben, so bleibt der Hof entprivatisiert.
War es schwierig, einen geeigneten Hof zu finden?
WAHLE: Schon, ja. Wir hatten zu dritt schon vorher eine SoLaWi in Erfurt betrieben. Dort war einfach kein Hof zu bekommen, auf dem Wohn- und Landfläche zusammenlagen. Wir mussten dann recht weit gestreut suchen. Dabei schauten wir, wo es in Zukunft einigermaßen aushaltbare klimatische Verhältnisse geben würde und wo es eine gute Nahverkehrsanbindung gibt. Und dann stießen wir auf die alte Mühle hier, zu der ungefähr 0,75 Hektar freies Land gehören. Da leben wir seit März und bauen unsere Gemüsegärtnerei auf. Auch Obstbäume gibt es schon.
Inwieweit bietet das Ackersyndikat ein sinnvolles Gegenmodell zu herkömmlichen Besitzverhältnissen in der Landwirtschaft?
KRAMP: Indem wir uns im Ackersyndikat erst einmal fragen: Wie ist überhaupt unser Zugang zu Land? Unsere Antwort darauf ist, dass Land keine Ware, kein Eigentum sein soll. Sondern es soll denen gehören, die es gerade nutzen. Die etwas schaffen wollen, weil sie daran glauben – und nicht, weil sie einfach das Geld haben oder ihnen der Hof übertragen wurde. Eigentums- und Gewinnlogiken treiben immer auch massiv Umweltzerstörungen voran.
Derzeit gibt es etwa 20 Projekte, die für das Ackersyndikat infrage kommen. Werden es also schnell mehr?
KRAMP: Ja, denn wir zeigen, dass es auch anders geht als mit Privateigentum. Das ist besonders gut geeignet für alle Höfe, die gemeinschaftlich bewirtschaftet werden und auch einen direkten Kontakt zu den Verbraucher:innen haben. Besonders viel Transformationspotential liegt dabei in der Kombination des Ackersyndikats als Eigentumsform mit Solidarischer Landwirtschaft. So genannter bewusster Konsum scheitert normalerweise schon daran, dass ich im Supermarkt gar nichts über ein Produkt erfahre. Wo kommt es her, wer hat es unter welchen Bedingungen hergestellt, was bedeutet überhaupt biozertifiziert, was diese ganzen Siegel? Daher braucht es nicht nur beim Hofeigentum, sondern auch beim Vertrieb der Produkte neue Wege. Ob das SoLaWi, Direktvermarktung, Erzeuger- Verbraucher-Genossenschaften oder anderes ist. All das geht auch auf Ackersyndikat-Höfen.
Wie sieht das Näherrücken von Produzent:innen und Abnehmer: innen konkret aus?
WAHLE: Die Menschen, die sich bei uns beteiligen wollen, zahlen für mindestens ein Jahr monatliche Beiträge und erhalten dafür im Gegenzug frisches, regionales und saisonales Gemüse, in manchen anderen SoLaWis auch Getreide oder tierische Produkte. Die regelmäßigen Zahlungen reduzieren Einflüsse von Preisschwankungen und Ertragsrisiken – und sie können mitentscheiden, was wir anbauen. Am Anfang der Saison gibt es dann eine so genannte Bieterrunde, dann kann jede:r Interesse bekunden und seine Anteile erwerben. Wir geben einen Richtwert vor, der für uns kostendeckend ist, zum Beispiel 100 Euro im Monat – und die Menschen bieten dann mehr oder weniger, je nach ihren finanziellen Möglichkeiten.
KRAMP: Wir formulieren es so, dass die Menschen nicht für die einzelnen Lebensmittel bezahlen, sondern für den gesamten Betrieb, und damit quasi auch ideell Mitbäuer:innen sind. Jede:r soll das geben, was er geben kann und die Ernte wird aufgeteilt. Es gibt dann so genannte Depots, zum Beispiel in der nächsten Gemeinde oder auf dem jeweiligen Hof.
Was motiviert Besitzer:innen, ihren Hof an das Ackersyndikat zu übergeben?
KRAMP: Dass ihr Lebenswerk auf sinnhafte Weise weitergeführt wird. Dafür erhalten sie zum Beispiel ihren Anteil als monatliche Rente ausgezahlt – und sie können sicher sein, dass ihr Hof auf eine nachhaltige, sozial gerechte Weise weitergeführt wird. Das Ackersyndikat kann dabei die Unverkäuflichkeit und die Art der Bewirtschaftung auf Dauer stiftungsartig sichern.
Auf wenn es spießig klingt: Die Entscheidungsprozesse in einem Kollektiv stellt man sich mitunter anstrengend vor. Wie empfinden Sie das im Zusammenleben?
WAHLE: Das Gute an Selbstorganisation ist natürlich, dass wir viele Gestaltungsmöglichkeiten haben – wir sind alle aus der Stadt hergezogen, da mussten wir uns in unserer neuen Land-WG selbst erst einmal Wohn- und Arbeitsstrukturen schaffen. Wir wurden von Anfang an sehr herzlich und offen von den Menschen hier im Dorf aufgenommen, aber müssen uns trotzdem noch eingrooven, weil alles neu ist. So eine Selbstverwaltung ist natürlich zeitaufwändig, allein wegen der Buchhaltung, aber zum Beispiel auch wegen der Organisation der Sanierung. Das ist für uns alle Neuland und wir wollen natürlich im Winter nicht noch auf einer kompletten Baustelle sitzen. Wir sind inzwischen auf sechs Personen gewachsen und werden eventuell bald zehn – da sind viele gute Absprachen nötig.
Aber es lohnt sich?
WAHLE: Und wie! Es fühlt sich einfach großartig an, dass wir jetzt Land haben, das uns niemand einfach aus Pachtgründen wieder wegnehmen kann. Die Arbeit, die wir hier reinstecken, um die Böden fruchtbarer zu machen, wird nicht irgendwann umsonst gewesen sein.
Dabei muss es aber nicht zwingend Bio-Landwirtschaft sein, oder? Das müssen Sie mir erklären.
KRAMP: Manche Formen kleinbäuerlicher Landwirtschaft können ökologischer sein als eine Biofarm, die fast schon industrialisiert ist. Wo auf tausenden von Hektar weitgehend Monokulturen angebaut werden, nur um Kosten zu senken. Zumindest für eine Übergangszeit sind wir offen, einen Betrieb zu unterstützen, der klein und vielfältig ist und dadurch eine vielfältige Kulturlandschaft unterstützt, selbst wenn er noch nicht das offizielle Bio-Siegel hat. Bei SoLaWi braucht es eine Bio-Zertifizierung nicht unbedingt, denn die Verbraucher:innen sind ja mit „ihrem“ Hof besser vertraut als die jährliche Biokontrolle.
WAHLE: Ich denke, dass Menschen, die so gar nichts mit nachhaltiger Landwirtschaft am Hut haben, eher nicht zu uns stoßen. Vielleicht an dieser Stelle aber noch mal ein Appell an ältere Menschen, die einen Hof haben, aber nicht wissen, wohin damit: Sie müssen den nicht an irgendjemand verkaufen, der ihren Acker weiter verpachtet oder ohne Rücksicht auf Verluste maximal gewinnorientiert bewirtschaftet. Nehmen Sie sich lieber die Zeit und suchen Sie nach jemandem, der Ihr Lebenswerk auf sinnvolle Weise weiterführt.
„DORFLUENCERIN“ JULIA NISSEN alias Deichdeern könnte man fast schon als Landliebe-Rampensau bezeichnen. Auch ihre Begegnungsstätte Klönstedt fördert im Netz auf charmante Weise das Miteinander zwischen Stadt- und Landmenschen. Hier nimmt uns die Bürgermeisterin mit ins virtuelle Dorf.
Julia Nissen (34) hatte schon immer den Traum, Stadt- und Landmenschen mehr zu vernetzen. Damit sich endlich mal die ewigen Vorurteile auf beiden Seiten – hier die Hippen, da die Trantüten – abbauen lassen. Mit dem virtuellen Dorf Klönstedt, das seit März 2022 online ist, schuf die dreifache Mutter und Pressesprecherin für das Forum Moderne Landwirtschaft eine Begegnungsstätte im Netz, die sich an den Strukturen einer kleinen Gemeinde orientiert und ein Ort für Austausch, Netzwerken und Inspiration sein soll.
Dabei bedient sich die seit 2016 ziemlich erfolgreich als Deichdeern bloggende Nissen, die mit ihrer Familie im nordfriesischen Bargum mit seinen 650 Einwohner:innen lebt, nicht nur am gesamten Fundus moderner Marketing- Tools, sondern sprüht auch vor Ideen für Austausch in der analogen Welt: Ihre „App aufs Land“ vermittelt Landerlebnisse zwischen Privatmenschen, mit der alljährlichen Wichtelaktion zwischen Menschen auf dem Land und in der Stadt sind bereits Freundschaften entstanden. Klönstedt funktioniert auf den ersten Blick als Online-Magazin, auf Wunsch mit Abo-Service, inzwischen wird es von einem sechsköpfigen Team betrieben. Wer nur Landidyll und Deichromantik sucht, wird allerdings enttäuscht: Klönstedt scheut sich nicht vor den sogenannten „harten“ Themen hinter der putzigen Dorf-Fassade – nicht zuletzt das macht Julia Nissen zu einer so authentischen (und erfolgreichen) Stimme in einem Meer von Landliebe-Influencer:innen. Aber hören wir ihr doch selbst zu.
„Klönstedt ist eigentlich nur eine Weiterführung dessen, was mir schon immer am Herzen lag: die Leute auf dem Land und in der Stadt zusammenbringen. Dabei ist ein einfacher, leichter Einstieg Teil des Konzeptes. Die Leser: innen, hauptsächlich sind es Frauen, sehen mich als ihre Freundin, und das Setting im digitalen Dorf ist erstmal sehr nett, sehr idyllisch. Um es mal platt zu formulieren: Viele stoßen auf meinen Blog, weil sie Bilder von Schafen auf´m Deich oder Gartentipps suchen und stolpern dann auch über Themen wie Altersarmut, Einsamkeit oder Trauer. Mir ist halt wichtig, neben den leichten Themen und den Dorfgeschichten der Menschen auch das zu erzählen und zu diskutieren, was die Leute wirklich bewegt, egal ob sie in Hamburg-Ottensen oder hier auf dem platten Land leben.
Ich will, dass wir alle lernen, über unseren Tellerrand zu schauen. Dabei möchte ich auch ein bisschen den Fortschritt vorantreiben: In Bargum gibt es neun Gemeinderatsmitglieder, alle sind natürlich weiß und männlich. Wenn mein Mann, der gerade Interims-Bürgermeister hier ist, darauf hinweist, dass er nicht immer zur Verfügung steht, weil wir drei Kinder haben, dann heißt es oft: „Ja Volker, aber du hast doch auch `ne Frau…“ Wir reden gerade intensiv darüber, was geschaffen werden muss, damit die Arbeit im Gemeinderat auch für Frauen attraktiver wird, ob man zum Beispiel Sharing-Modelle einführen kann.
Zudem möchte ich auch landwirtschaftliche Themen für alle zugänglich machen, auch wenn die Landwirte mich oft etwas polterig angehen oder korrigieren, wenn ich Sachverhalte ohne die Fachbegriffe erkläre. Aber ich muss ja erstmal davon ausgehen, dass nicht jeder weiß, wie Rüben geerntet oder wie Kühe besamt werden. Von Kommunikation haben sie keine Ahnung. Aber wie auch? In meinem Landwirtschaftsstudium gab es in einer Vorlesung genau eine Folie zum Thema Öffentlichkeitsarbeit. „Achso ja, Kommunikation … da kommt was auf euch zu“, sagte der Dozent knapp. Wie sollen Landwirte in Zeiten der Transparenzoffensive die Menschen denn dann bitte ins Boot holen? Auch da möchte ich mit Deichdeern und Klönstedt Abhilfe schaffen.
Neulich haben wir uns in der Community gefragt: Wieso gibt es auf keinem Trecker ein Isofix, um einen Kindersitz zu befestigen!? Viele lösen das Problem mit Kabelstraps und abgesägtem Ikea-Hochstuhl, also eher suboptimal. Aber immer mehr Frauen übernehmen doch die Betriebe und immer mehr Väter wollen Zeit mit ihren Kindern verbringen, wann wird das bitte Standard auf Treckern? Ich pieke die Branche da schon gerne an, dazu braucht es auch Rückgrat, denn die Landwirte reagieren schon recht ruppig manchmal. Das auszuhalten ist mit einer gewissen Reichweite zugegeben einfacher.
Bei diesem Thema diskutieren auch die Städter:innen angeregt mit und sie sehen, dass wir uns hier auf dem Land auch weiterbewegen. Aber auch für sie gibt es viele Themen in Klönstedt, zum Beispiel, wenn sie, wie so viele seit Corona, aufs Land ziehen. Manche kommen dann aus Hamburg her und fallen aus allen Wolken: Ach so, man braucht zwei Autos? Oh, Lebensmittel sind auch so teuer wie in der Stadt? Ah, man findet gar nicht so schnell neue Freund:innen…? Auch hier möchte ich Tipps oder man könnte auch sagen: praktische Lebenshilfe geben.
In Klönstedt haben wir alle vier Wochen ein virtuelles Dorftreffen inklusive „Klönstedterin des Monats“: Zum Beispiel Annette aus Bargum, die hat gerade mit ihrem Mann ein altes Bauernhaus renoviert und kennt sich jetzt mit Fördermitteln aus, sie teilt ihr Wissen und kann anderen so viele Strapazen ersparen. Andere Themen sind Gleichberechtigung, Care-Arbeit oder, ganz heißes Thema, Rente – ich glaube, da sind Städter:innen schon weiter, die wissen, dass Heiraten keine Altersvorsorge ist. Wenn man zwanzig Jahre zuhause bleibt und sich um die Kinder kümmert, dann sieht es später düster aus, wenn es eben nicht lebenslang hält. Solche Inhalte greifen wir auch mit Seminaren und Workshops auf, um vor allem Frauen Tipps an die Hand zu geben. Es herrscht aber nicht immer Einigkeit bei Themen, oft höre ich von Landfrauen, dass ihnen ein Lifestyle- oder Ernährungsthema zu modern ist. Und beim Gendern verdrehen viele immer noch die Augen. Machen wir aber natürlich trotzdem.
Dass Stadt und Land eben nicht gleich sind, wird mir oft auf teilweise drastische Weise vorgeführt: Wir bekamen gerade die Diagnose Epilepsie für meine jüngste Tochter. Ich versuchte vier Wochen lang, einen Termin in Eiderstedt oder auf Sylt zu bekommen, wo die nächsten Kinderneurologinnen sitzen – also eine Stunde Fahrt von uns. Ich bekam nicht einmal jemanden ans Telefon! Im Kinderkrankenhaus Hamburg-Altona ging das dann ratzfatz, da hat die Stadt uns enorm was voraus. Auch wenn ich die Identität meiner Kinder nicht im Netz preisgebe, kann ich hier von einer wertschätzenden Community profitieren. Auf dem Dorf kennt man vielleicht einen, der sagt dann: „Ich glaub’ der Onkel Hinnerk hatte das früher auch.“ Hier in Klönstedt gibt es dann gleich zehn Mütter, die dir qualifizierte Tipps geben, wenn dein Kind krank ist.“
Alle Inhalte aus diesem Magazin, weitere Texte und Studien finden Sie hier.
Warum es so wichtig ist und wie man es fördern kann – Darüber spricht Katharina Heckendorf mit ihren Gästen in dieser Folge.
20. Oktober 2022Warum es eine Bauwende braucht? Darüber diskutiert Katharina Heckendorf mit ihren Gästen in dieser Folge.
29. September 2022Bei der Sommerakademie „Rural Futures” dreht sich alles um die Zukunft ländlicher Räume.
07. September 2022Wer sich auf die Reise macht, dem tun sich neue Räume auf.
30. August 2022Das Metaverse verspricht, uns ortsunabhängig über alle Distanzen zusammenführen zu können.
03. August 2022Prof. Dr. Julian Petrin entwirft mit seinem Beratungsunternehmen „urbanista“ in Hamburg Zukunfsstrategien für Städte.
03. August 2022„Multicodieren“, das klingt nach einer Horde Programmierer, die Tastaturen klappern lassen.
03. August 2022Provinz ist keine Landschaft, sondern ein Zustand. So lautet ein Bonmot von Manfred Rommel, der von 1974 bis 1996 Oberbürgermeister von Stuttgart war.
03. August 2022Wieso „Schwärmerstädtchen“? Die Antwort liegt nahe, wegen „Schwarmstadt“. Gemeint sind Unistädte wie Greifswald oder Potsdam.
03. August 2022Kaum jemand hat das Verhältnis von Stadt und Land so intensiv untersucht wie Prof. Dr. Stefan Siedentop von der TU Dortmund.
03. August 2022Ein neues Magazin der ZEIT-Stiftung stellt Menschen und Projekte vor, die Grenzen zwischen Städten und ländlichen Räumen aufheben.
02. August 2022Großstädte sind die Zentren des 21. Jahrhunderts. Sie saugen Talente an, schaffen Wohlstand – und Unfrieden.
02. August 2022Auf Fehmarn können sich beim Rural Futures-Workshop „Moderne Provinzen” Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen aus beiden Ländern austauschen.
16. März 2022In der vorerst letzten Ausgabe der Podcast-Reihe „Urban Change“ geht es um das große Ganze.
20. Dezember 2021Eine neue Studie im Auftrag der ZEIT-Stiftung analysiert den Diskurs über Städte und ländliche Räume.
24. November 2021Wovon ist abhängig, ob die Initiativen das Land wiederbeleben? Welche Menschen finden sich in solchen Projekten wieder? Welche Ziele verfolgen sie?
28. Oktober 2021Im Podcast spricht Moderatorin Katharina Heckendorf mit Innovationsmanager Ole Keding über agiles Arbeiten und diverse Teams.
11. Oktober 2021Bei der Ideenwerkstatt Stadt.Land.Zukunft in Homberg (Efze) tauschten sich die Teilnehmer:innen interdisziplinär aus und gingen auf Entdeckungstour.
01. Oktober 2021Im Mittelalter waren Stadt und Land klar definiert. Heute ist die Unterscheidung kompliziert. Eine Leseprobe aus „Wir. Heimat – Land – Jugendkultur“.
19. September 2021Bei der Ideenwerkstatt im nordhessischen Homberg diskutierten 14 Fellows über zukunftsfähige Regionen. Hier stellen sie sich vor.
02. September 2021Wie kann man Stadtraum ohne kommerzielle Ziele attraktiv gestalten? Die MACH PLATZ-Initiative startet mit ersten Aktionen in Hamburgs Innenstadt.
02. September 2021In Folge zwölf des Urban Change-Podcasts werfen Katharina Heckendorf und Martin Machowecz einen Blick auf den Osten Deutschlands.
08. Juli 2021Von 2018 bis 2020 beschäftigten sich Jugendliche sowie Expert:innen aus Wissenschaft und kultureller Bildung mit dem Thema „Jugend auf dem Lande"
25. März 2021