Ist eine Gesellschaft, in der ein Bürgerrecht auf Bildung verwirklicht wird, möglich? Fest steht: Ralf Dahrendorfs entsprechende Forderung aus dem Jahr 1965 hat nicht an Aktualität verloren. Obwohl das Bundesverfassungsgericht 2021 Bildung als Grundrecht bestätigt hat, nimmt die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland wieder zu. Für uns als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS und die Bucerius Law School bildete diese gravierende Diskrepanz zwischen verbrieftem Recht und gelebter Praxis den Anlass für die Initiative „Bildung ist Bürgerrecht“.
Expert:innen diskutieren öffentlich – und legen „Bildungsmanifest“ vor
Eine im Herbst 2022 gebildete, interdisziplinär besetzte, offene Expert:innengruppe hat aus Dahrendorfs Vision konkrete Ziele und Handlungsempfehlungen entwickelt. Seither fanden zahlreiche Veranstaltungen und öffentliche Debatten statt, etwa zur Qualitätssicherung, Diskriminierung und Rassismus an Schulen. Die Beteiligten aus Recht, Bildungsforschung, Bildungsgeschichte und Zivilgesellschaft haben zudem mit Bildungspolitiker:innen und Praktiker:innen gesprochen und empirische Forschungsergebnisse betrachtet. Ihre Erkenntnisse sind in ein „Manifest zum Bürgerrecht auf Bildung“ eingeflossen, das im Januar 2024 der damaligen Bundesbildungsministerin Lisa Paus übergeben wurde. Nun wurde am 12. November 2025 – exakt 60 Jahre, nachdem der erste Teil von Dahrendorfs wegweisendem Buch „Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik“ in der ZEIT erschien – in der Bucerius Law School kritisch Bilanz gezogen. Die Veranstaltung unter dem Titel „Bildung ist Bürgerrecht. Leere Worte oder eingelöstes Versprechen?“ bildete einen starken Schlussakkord nach drei Jahren intensiver Diskussionen, Konzeptentwicklung und politischem Dialog.
Dahrendorfs Utopie als Auftrag der Gesellschaft: Aktuelle Impulse zu BIldungs(un)gerechtigkeit in Deutschland
Nach einer Video-Keynote der Bundesbildungsministerin Karin Prien kamen die Hamburger Wissenschaftssenatorin Maryam Blumenthal, der Journalist und Lehrer Thomas Kerstan-Geest, die Bildungswissenschaftlerin Dr. Martina Diedrich und der Rechtsanwalt Dr. Mehmet Daimagüler zu Wort. In ihren Impulsen verknüpften sie aktuelle Erkenntnisse zur Bildungsungerechtigkeit in Deutschland mit vorliegenden Empfehlungen und erfolgreichen Praxisbeispielen. Im anschließenden Gespräch mit Prof. Dr. Felix Hanschmann, Lehrstuhlinhaber an der Bucerius Law School und Leiter der Expert:innengruppe, wurde gefordert, junge Generationen auch in Zeiten globaler Herausforderungen wieder stärker in den Blick in zu nehmen. Mit dem Manifest zum Bürgerrecht auf Bildung liege ein Orientierungsrahmen vor, um die Bildungsgerechtigkeit zu stärken.
Das Papier enthält konkrete Forderungen zu drei zentralen Fragen: Was, wie und wozu sollen Schüler:innen heute lernen? Dazu gehören etwa ein Bildungsminimum aus fachlichen und überfachlichen Kompetenzen, strukturelle Reformen und multiprofessionelle Begleitung durch Lehrkräfte, sozialpädagogische und psychologische Fachkräfte sowie der verbindliche Ganztag. Ziele dessen sind vor allem die mündige Teilhabe am demokratischen System neben verbesserten Berufschancen hervorgehoben. Das Manifest enthält zudem Ansatzpunkte für Schulen und Politik: Es schließt mit einem Appell, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Die Grundlagen sind damit gelegt: Zukünftige bildungspolitische Reformen können sich an diesem Kompass messen.
Bei der Veranstaltung wurde deutlich: Die Arbeit der Expert:innengruppe ist formal beendet, muss nun aber auf politischen Ebenen, in Schulen, bei Eltern, Lehrkräften, Schüler:innen geführt werden. Es gehe darum – so das Fazit von Manuel Hartung, Vorstandsvorsitzender der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, an diesem Abend – „mutig zu bleiben“, weiter für das „Bürgerrecht auf Bildung“ zu streiten und Ralf Dahrendorfs Utopie als Gestaltungsauftrag zu verstehen.