Über den Raumtyp: Schwärmerstädtchen

Wieso „Schwärmerstädtchen“? Die Antwort liegt nahe, wegen „Schwarmstadt“. Gemeint sind Unistädte wie Greifswald oder Potsdam.

VON ELISABETH HUSSENDÖRFER

Wieso „Schwärmerstädtchen“? Die Antwort liegt nahe, wegen „Schwarmstadt“. Gemeint sind Unistädte wie Greifswald oder Potsdam: Kleiner als die einschlägigen Studierenden-Metropolen, aber nicht weniger attraktiv. Studierende und Berufstätige kamen und kommen im „Schwarm“.

Wie die Bienen, die aus dem Stock „ausschwärmen“ und wissen: Sie können jederzeit zurück ins „Nest“. Schwärmerstädtchen ist sowas wie Schwarmstadt in klein. Das Wort hat aber noch mit etwas anderem zu tun. Viele, die derzeit Kleinstädte wie Bad Belzig, Eberswalde oder Angermünde für sich entdecken, kommen ins Schwärmen. Die Unternehmerin und Autorin Milena Glimbovski zum Beispiel sagt: Ich habe hier alles. Eine gute Bahnanbindung, einen Kleingarten, eine bezahlbare Wohnung und sämtliche alltägliche Erledigungen lassen sich fußläufig machen. Das „entstresst“. Im Schwärmerstädtchen hat man inzwischen oft auch den Kindergarten, der auf dem Dorf dichtgemacht hat. „Geschwärmt“ wird daher aus allen Himmelsrichtungen. Oft erstmal gedanklich: Muss es wirklich das Eigenheim mit Garten und Auto davor sein? Auch die Schwärmerstädtchen bieten tollen Komfort – und den Carport braucht es dafür vielleicht gar nicht.

Was manche „inklusiv“ nennen, kommt sozusagen on top. Industrielle „Altlasten“ werden zu „Entwicklungsräumen“ und bieten neben Möglichkeiten eine neue Wertschätzung dessen, was längst da ist. In der Brache kann man jetzt wohnen. Oder arbeiten. Oder beides, und der Kaffee kommt aus der High-End-Barista-Maschine. Hauptstraßen werden lebendig, Kneipen und Kinos sperren neu oder wieder auf. Das Gestern lebt. In Räumen, in denen alte und neue Schwärmer in Kontakt kommen können.    

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BERLIN SOLLTE GREIFBAR BLEIBEN, aber Milena Glimbovski (32) wünschte sich mehr Ruhe und Grün. Über ein Jahr lang hat die Unternehmerin mit ihrer Familie mit Wohn- und Lebensformen experimentiert, fündig wurden sie schließlich in Eberswalde. Mehr als ein „Kompromiss“.

Wie wollen wir leben? Nach zwölf Jahren in der Hauptstadt ist diese Frage für Milena Glimbovski und ihren Freund immer lauter geworden. Zwar war die Altbauwohnung in Berlin- Kreuzberg ein Wohlfühlort. Hohe Räume, große Küche, Holzdielenboden. Auch beim Vor-die-Tür-Treten war die Welt erst mal in Ordnung. Viel Altbau, viel netter nachbarschaftlicher Kontakt, ein Viertel mit Charme. Aber fast immer gab es dann auf dem Weg zur U-Bahn oder zum Spielplatz irgendwelche unerfreulichen Situationen. Einmal konnte sie ihren jetzt 3-jährigen Sohn auf dem Spielplatz nicht rechtzeitig davon abhalten, einen Löffel abzulecken. Hatte jemand damit Drogen gekocht? Oder ein Mittagessen gegessen? „Beides nicht wirklich geil.“

Berlin ist der Hammer, keine Stadt inspiriert und fasziniert so – Milena Glimbovski geht es wie vielen. Aber in den letzten Jahren wurde es ihr vor allem nach den Urlauben zu viel. Zu viele Menschen, zu viele Eindrücke. Irgendwie sehnte sie sich nach beidem: Nach dem pulsierenden Urbanen plus einem Ausgleich, einem Escape. Mit ausgedehnten Urlauben in Schweden glaubten sie und ihr Freund, die Lösung zu haben. Im Frühjahr und Sommer würden sie hier ein paar Wochen sein. Und dann, während einer dieser Urlaube ging das mit Corona los, und aus Angst vor Ansteckung sind sie einfach dageblieben, für ein ganzes Jahr, und haben die Berliner Wohnung untervermietet. „Das Häuschen lag mitten in der Natur, man kam komplett runter“, erzählt Glimbovski. Und die Akzeptanz des digitalen Arbeitens wuchs und damit erschien es von Woche zu Woche weniger dringend, in Berlin zu sein. Nur einmal kamen sie vorübergehend zurück, um ein paar berufliche Dinge zu erledigen. Dabei wurde klar, dass die gelegentliche Dosis Bullerbü nicht genügte, um die Hauptstadt weiter eine Heimat sein zu lassen. Sie beschlossen, wegzuziehen.

Was allerdings fehlte, war eine Alternative zum „Schweden-Kreuzberg-Wechselmodell“. Glimbovskis Freund ist Mitarbeiter in der Personalverwaltung, sie Geschäftsführerin von „Original Unverpackt“ und Mitgründerin des Verlags „Ein guter Plan“. Wir leben und arbeiten in Berlin, hätten sie früher gesagt. Während des Lockdowns aber hatten sie gesehen, wie gut das Arbeiten im Home-Office funktioniert. Doch natürlich gibt es Termine, für die ist es besser, vor Ort zu sein. Wie konnten sie ihr Schweden- Feeling nach Deutschland bringen, ohne auf Stadt-Nähe zu verzichten? Und wie war das eigentlich so, in Deutschland, „ein Stück weiter draußen“? Bestimmt ganz anders als viele sich das vorstellten. Bestimmt waren die Bilder, die die Stadtmenschen-Fantasie da gern zeichnete, viel zu einseitig.

Lass es uns ausprobieren, schlug sie ihrem Freund vor, und so mieteten sie sich im Frühjahr 2021 für vier Wochen eine Ferienwohnung in einem Dorf, in das kürzlich eine Berliner Freundin gezogen war. Das fehlende Gedrängel in der U-Bahn am Morgen, die Felder vor der Haustür… Schon nach kurzer Zeit war Milena Glimbovski innerlich für diese Art zu leben auf „Go“. Ihrem Freund aber ging es anders. Er vermisste die Stadt, sprach von fehlenden Möglichkeiten, schlechter Anbindung an die „Öffis“. Aus der Traum? Zum Glück nicht. Lass uns über einen Kompromiss nachdenken, meinte er. So sind sie dann letztlich zum Ende des Sommers nach Eberswalde gekommen.

Wie fühlt sich euer Leben jetzt an? wird sie manchmal gefragt. Leichter, konfliktärmer, sagt sie dann. Aber ehrlicherweise auch langweiliger, wobei das gar nicht unbedingt negativ gemeint ist. Diese bestimmte Art von Langeweile könne auch was sehr Entspanntes haben: „Man kann besser ankommen, wenn das Schrille und die Schnelligkeit fehlen. Und wenn trotzdem im Grunde alles da ist.“ Neulich hat sie den Begriff „15-Minuten-Stadt“ gehört, in der in 15 Minuten alles Wichtige erreichbar ist. Für Eberswalde kann sie das nur bestätigen. Zwei Lieblingscafés, der Bäcker, ein kleines Einkaufszentrum, ein richtig guter Bio-Laden und der Bahnhof… überall kommt man zu Fuß hin. Im Rotfinpark, einer Industriefläche, gibt es einen Second-Hand-Laden, einen Vintage-Möbelverkauf und eine kleine Rösterei. Nicht zu vergessen die städtische Bibliothek in der Stadt, die sich in einem wunderschönen alten Gebäude befindet. Der ideale Rückzugsort, findet Milena Glimbovski. Und eine Auswahl, gerade im Kinderund Jugendbereich, die sich sehen lassen kann.

Wie wollen wir leben? Wenn sie sich die Frage heute erneut stellt, kommt als Antwort: genau hier, in dieser hübschen Stadt mit den viele Studierenden und dem schönen Öko-Touch. Wenn sie am Morgen das Haus verlässt und nach rechts schaut, sieht sie ganz viel Grün – Eberswalde ist von Wald umgeben. Schaut sie nach links, sieht sie den typischen Altbau-Charme, wie man ihn auch in Berlin in den Seitenstraßen findet, nur eine Nummer kleiner. Und sie sieht viel lebendiges Leben, denn im Moment ziehen viele Familien her.

Einen Garten hat ihre jetzige Wohnung – exklusiver Besichtigungstermin, Mietvertrag eine Woche später unterzeichnet, „in Berlin hätten wir mit hundert anderen konkurriert“ – zwar auch nicht. Aber zum Kleingarten, den sie gepachtet hat, ist es nur ein Katzensprung. Schon im Frühsommer konnte sie die ersten Tomaten und Paprikas ernten. Im Moment kommt sie kaum mit der Grünkohlernte nach und auch beim Naschobst ist schon einiges reif. Einige, die in der Anlage gärtnern, kommen aus Berlin. In der Stadt gibt es nichts Vergleichbares, sagen sie. Und das gilt nicht nur fürs Gärtnern, denkt Milena Glimbovski sich dann. Ihr Freund hat kürzlich im Wald eine Badestelle entdeckt, keine zehn Fußminuten von ihrer Wohnung weg. Nicht nur das Kind liebt es dort.

Und wenn ihnen Eberswalde doch mal zu „klein“ wird? Dann lässt sich der – meist – eine Job-Tag pro Woche in Berlin leicht ausdehnen. Bis Gesundbrunnen ist es mit dem Regio eine halbe Stunde, das lohnt auch mal spontan. Samstags, für eine Runde Crêpes auf dem Berliner Öko- Markt zum Beispiel. Man fühlt sich dann ein bisschen wie ein Tagesausflügler. „Genau genommen ist man das ja auch“, sagt Milena Glimbovski. „Und zwar richtig gern.“

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FRANK FRIEDRICH BESETZT IN DER STADTVERWALTUNG Bad Belzig in Brandenburg eine Stabsstelle im Bereich Digitalisierung. Seit der Wende hat der 62-Jährige zahlreiche Gestaltungsprozesse angeschoben. Wie sich seine Heimat zuletzt entwickelt, ist für ihn eine Überraschung.

Sie sprechen von einer neuen Aufbruch-Stimmung in Bad Belzig, nennen Ihren 11.500 Einwohner zählenden Heimatort eine „Boom-Town“. Und es ist nicht der erste Aufbruch, den Sie erleben…
Frank Friedrich: Richtig, die Zeit nach der Wende war spannend! Die kommunale Selbstverwaltung hat für uns damals ganz neu begonnen, sämtliche Entscheidungen gingen von Berlin aus. Als ich 1989 zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt wurde, gab es gefühlt vor allem eins: einfach machen.

Und was war das?
Friedrich: Wie dürfen wir uns als Kommune entwickeln? Was ist mit dem alten Freibad aus den Dreißigern? Können wir das modernisieren? Die Fragen und Unsicherheiten sind dann ziemlich schnell einem gewaltigen Gestaltungsdrang gewichen, es gab viel Spielraum, eine große Zuversicht. Schon bald hatten wir das schönste und modernste Freibad in ganz Brandenburg. Bad Belzigs Entwicklung als moderne Kurstadt ist selbstredend.

Aber es blieb nicht beim Aufbruch?
Friedrich: Zwischen 2005 und 2015 stagnierte es, mancherorts herrschte fast Weltuntergangsstimmung. Viele sind weggezogen. Kaum jemand kam neu her. Ganz Deutschland hat unter der Finanz- und der Flüchtlingskrise gelitten, aber die sogenannten strukturschwachen Gegenden hatten besonders zu kämpfen. Während Metropolen wie Berlin aus den Nähten platzten, hat man uns beim Landesamt für Statistik prophezeit: Ihr werdet in den nächsten Jahren eine Reduzierung um zwei bis dreitausend Einwohner:innen haben. Ganz ehrlich: das war eine richtig depressive Phase.

Wie hat Bad Belzig da wieder rausgefunden?
Friedrich: Spontan würde ich sagen: das kam zufällig. Es gibt ein ehemaliges Gutshaus in einem Ortsteil etwa fünf Kilometer außerhalb, rund 250 Jahre alt. Das Haus war kommunales Eigentum und wurde denkmalgerecht saniert. Mitte der Neunzigerjahre wurde es als Hotellerie und Gastronomie betrieben. Leider nie sonderlich erfolgreich. 2015 gab es dann den Versuch, das Objekt wiederzubeleben. Ohne Zweckbindung. Dazu gab es einige Ideen von Firmen, aber nichts, was uns vom Hocker gehauen hätte. Und dann hatte ich eines Tages diese Unterlagen auf dem Tisch. Ein Konzept für einen Co-Working-Retreat.

Für ein was?
Friedrich: Genau so dachte ich auch. Aber unser Grundprinzip von damals war geblieben: Wir sind offen. Ich werde nie vergessen, wie Janosch Dietrich, der heutige Geschäftsführer des Retreats, zu mir ins Büro kam. Barfuß, mit dem Fahrrad, eine Flasche Wasser auf dem Gepäckträger. Und der will sowas stemmen, ein Objekt für fast 300.000 Euro? Aber Janosch Dietrich hat alles eingehalten: die zugesagten Zeitpläne, die Abgaben, die Anzahlung der Kaufpreissumme. Das „COCONAT“ ist 2017 eröffnet worden und gilt als Vorzeigeprojekt. Bis weit über die Grenzen Brandenburgs hinaus übrigens, außerdem hat das „COCONAT“ zahlreiche Preise abgeräumt, unter anderem den deutschen Tourismuspreis 2020.

Was passiert im „COCONAT“?
Friedrich: Vereinfacht: Die Leute kommen und arbeiten und leben in der Natur, mal nur für einen Tag, mal für Wochen oder Monate. Das Retreat befindet sich inmitten eines wunderschönen Landstrichs, am Fuße des Hagelbergs, umgeben von Feldern und Wiesen. Und doch ist man durch die Digitalisierung ganz nah dran. Dieser einzigartige Mix zieht kreative Köpfe an, die wir hier so vorher nicht hatten. Da kommt der Schriftsteller mit der Schreibblockade, der Werbetexter, Filmemacher, Designer. Auch Kreativabteilungen größerer Konzerne nutzen das Angebot für Workshops. Work-Life-Balance, dieser Begriff fällt oft. Für mich geht es eher in Richtung „hier geht was“.

Und es scheint noch einiges mehr zu gehen. Seit 2018 ist Bad Belzig „Smart Village“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Friedrich: Das ist eine Initiative der Medienanstalt Berlin- Brandenburg. Janosch Dietrich hatte die Idee, dass sich Bad Belzig mit unserer Nachbargemeinde Wiesenburg bewerben könnte. Und Bad Belzig wurde ausgewählt.

Das bedeutet?
Friedrich: Keine Fördermittel, Smart Village ist ein Ehrentitel. Aber einer mit Wirkung. Denn inzwischen sind wir auch Smart City. Wieder haben sich Bad Belzig und Wiesenburg gemeinsam auf den Weg gemacht, aber diesmal wurde es richtig ernst, denn das Bundesinnenministerium fördert das Projekt mit sechs Millionen Euro. Wir bekamen erneut den Zuschlag.

Was genau heißt „smart“?
Friedrich: Wie kann das Leben im ländlichen Raum in Zukunft verbessert werden? Das Ganze ist stark wissenschaftlich ausgerichtet und wohin es am Ende führen wird, ist schwer zu sagen. Ich weiß nicht, ob die Einwohner Bad Belzigs ihre Päckchen eines Tages mit Drohnen bekommen. Oder ob der Personentransport in der Zukunft über Luft-Taxis funktioniert. Die Bad-Belzig- App, die wir entwickelt haben, ist ein erster Schritt. Sie wurde übrigens von einer der zwanzig Firmen entwickelt, die sich dauerhaft im „COCONAT“ angesiedelt haben.

Wie funktioniert die App?
Friedrich: Wir haben sie mit Hilfe einer Förderung des Landes Brandenburg als Prototyp mit offenem Quellcode entwickelt. Das heißt auch andere Kommunen können sie übernehmen und tun das zum Teil schon, Frankfurt/Oder etwa oder Eisenhüttenstadt, insgesamt schon mehr als 20 Kommunen. Damit hat man seine Stadt mit ihren Dienstleistungsangeboten immer dabei. Ich bekomme zum Beispiel Infos, wie: „Das Freibad schließt heute schon um vier, weil ein Gewitter kommt“. Oder auch: „In der Straße der Einheit gibt es bis morgen früh um sechs eine Sperrung.“ Ein wichtiger Baustein sind ehrenamtliche Journalist:innen, die ihre Beiträge einstellen. Für eine verlässliche Informationsquelle und weniger Fake, dafür mehr „das bin ich, das ist meine Stadt und ich bin ein Teil von ihr.“ Meine Überzeugung: So kommen wir alle zusammen mehr in die Aktivität und können Dinge auf die Beine stellen, die man sich nicht hat träumen lassen.

Klingt nach einer modernen, beweglichen Stadt.
Friedrich: Ja, aber auch eine Stadt, die hier und da an ihre Grenzen kommt. Smart City ist Anfang 2021 gestartet und zieht bereits eine Handvoll weitere Ideen nach sich. Plus Projekte, die bereits angelaufen sind. Das Thema Klimaschutz im ländlichen Raum zum Beispiel: Wie kann eine Kleinstadt Maßnahmen entwickeln und die Zivilbevölkerung dabei einbezogen werden? Nur mit den notwendigen Ressourcen ist das alles zu stemmen.

Sie klingen zum ersten Mal in diesem Gespräch aber nicht ganz so zuversichtlich.
Friedrich: Es bleibt herausfordernd. Aber es passiert ja was. Wenn ich gleich neben dem Marktplatz das alte Ladengeschäft sehe, das bis letztes Jahr leer stand und in dem sich jetzt die Anlaufstelle des Smart City- Projektes befindet. Das wird sowieso alles nichts mehr? Solche Äußerungen höre ich in Bad Belzig zwischenzeitlich kaum noch. Dafür höre ich Stimmen wie die des Ortsvorstehers aus Hagelberg neulich, ein alteingesessener Bad Belziger. Es war das 5-jährige „COCONAT“ -Jubiläum, ein kleines Fest. Er trat ans Mikro, es wurde still. „Ihr seid das Beste, was uns hier passieren konnte.“ Ein Gänsehaut-Moment! Das Leben im ländlichen Raum hat eine Zukunft, wenn wir die Möglichkeiten der Digitalisierung sinnvoll einsetzen.

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DIE KÜNSTLERIN UND KULTURMANAGERIN Marie Golüke (33) veranstaltet in ihrem Heimatdorf das „Festival für Freunde“. Erst kam sie nur für den Sommer zurück. Anfang des Jahres ist sie dann ganz geblieben.

„Dahnsdorf, wo ich aufgewachsen bin, hat sich kaum verändert: 400 Einwohner, die Hauptstraße, ein Kindergarten, eine kleine Autowerkstatt, eine alte Backsteinkirche und ein wenig abseits noch aus DDR-Zeiten das Gelände der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) mit seinen 90 Meter langen Hallen, die ich schon damals total spannend fand. Meine Kindheit war schön. Wir wohnten in der Mitte des Orts direkt über dem Konsum, aber man brauchte nur ein paar Meter zu gehen und war frei. Ich musste erst um acht Uhr abends wieder zu Hause sein, ohne dass meine Eltern sich Gedanken gemacht hätten. Als ich älter wurde, rückte Berlin in meinen Fokus. Oft bin ich in den Ferien, und manchmal auch für ein Wochenende, zu meinen Großeltern dorthin gefahren. Die Buslinie 582 gab es damals wie heute, was für ein Glück: An der Backsteinkirche einsteigen, in Bad Belzig in den Regionalexpress umsteigen, in einer Stunde war man in einer anderen Welt. Später manchmal auch nur für eine Nacht.

Ich mag Berlin – die Kreativität, die Atmosphäre. Aber mit der Zeit fällt einem auch auf, wie so manche Location durch Kommerzialisierung und Gentrifizierung einbüßt. Die 90-Meter-LPG-Halle in meinem Heimatdorf ist pur geblieben. Nach dem Abitur habe ich in München Theaterwissenschaft und dann in Hamburg Performance Studies studiert. Ein Kreis von Künstler-Freunden entstand: Wir trafen uns in Kellern, feierten, besuchten Festivals. Und es reifte dieser Traum: ein eigenes, entspanntes, familiäres Theaterfestival. Kein Hetzen von Location zu Location, wie es in Großstädten leider oft der Fall ist.

Wieso eigentlich nicht in Dahnsdorf? dachte ich. Ein Ort, an dem man komplett den Alltag vergisst. Gut Dahnsdorf ist ehemaliges Rittergut und hat zu DDR-Zeiten ebenfalls zur LPG gehört. Das Anwesen liegt mitten im Ort und ist ein Vier-Seitenhof mit einem riesigen Wohngebäude, zwölf Zimmern, Ställen, 6000 Quadratmetern Wiese. Könnt ihr euch sowas vorstellen, ein Festival? fragte ich die Freund:innen. Sie konnten. Dank einer Crowdfunding- Kampagne konnten wir 2013 starten. Man kann sich das Ganze ein bisschen wie eine erweitertes Freundestreffen vorstellen: 30 Menschen, der Übergang vom Gast zum auftretenden Künstler war fließend. Aber die Vielfalt von Theater über Tanz, Performance, Musik bis hin zur Installation war schon damals enorm. Für die Auftritte nutzten wir den Schweinestall, die Scheune und eine Open-Air-Bühne.

Über die Jahre hat sich das Festival weiterentwickelt. Bringt eure Freunde mit, dann lernen sie neue Freunde kennen, sagten wir. Vielleicht schon damals in diesem tiefen Wissen: Da geht noch mehr, wenn man den Blick weit werden lässt und nicht auf Metropolen wie Berlin fixiert bleibt, wo ich die letzten sieben Jahre gelebt habe.

Es war ein Prozess, bis auch die Einheimischen gekommen sind. Während es für mich seit jeher normal ist, aufs Dorffest zu gehen, blieben die Dorffest-Besucher dem Festival fern. Warum? Wir wissen gar nicht, was da passiert, hieß es. 2016 haben wir eine Hip-Hop-Tänzerin aus der Region eingeladen, das war ein Durchbruch. Mehrere hundert Besucher kommen seitdem, immer am ersten Wochenende im August. Unser Publikum ist durchmischt, divers. Genau wie das Programm, für das wir Künstler aus nah und fern laden. Harte Themen und Performances über Gendern, Geschlechtlichkeit und Migration finden genauso ihren Platz wie unterhaltsame Genres und Konzerte, lokale Gruppen oder auch ein Kindertheater für Zwei- bis Zehnjährige. Auch Künstler:innnen mit Behinderung gehören zum Programm. Und bei all dem ist die familiäre Atmosphäre von der Anfangszeit geblieben.

Für mich ist das magisch, was da in den letzten zehn Jahren passiert ist. Ein Prozess, der mit Energie zu tun hat, mit Schwingungen. Aber ein Stück weit ist der Grund für den Erfolg des Festivals vielleicht auch ganz banal. Der Bus Nummer 582 fährt wie zu meinen Kindertagen stündlich nach Bad Belzig. Viele Festivalbesucher kommen aus Berlin mit den Öffentlichen. Manche schlafen auf dem Gelände, manche machen die Nacht durch und nehmen wie ich damals den ersten Bus zurück. Normalerweise müsste er „für sowas“ ein Ticket „nach Mitte“ kaufen und ordentlich Fahrzeit kalkulieren, hat ein Festivalbesucher mal gemeint. Und sich für die „vielfältige und hochwertige Kultur direkt vor seiner Haustür“ bedankt.

Seit 2018 können wir für einen Teil des Programms die 90-Meter-LPG-Halle nutzen, die nur ein paar Fußminuten vom Festivalgelände entfernt ist. Die Location, die für viele lange nur die „krasse Industriebrache“ oder auch „der Schandfleck“ war, ist ein Gewinn. Einmal ist hier das Kanaltheater Eberswalde aufgetreten, ein anderes Mal sollten die Besucher im Rahmen eines Workshops auf Postkarten schreiben, was sie mit diesem Ort in Verbindung bringen und wie sie ihn in Zukunft gerne sehen würden. Das Interesse an der Aktion war enorm.

Seit 2018 können wir für einen Teil des Programms die 90-Meter-LPG-Halle nutzen, die nur ein paar Fußminuten vom Festivalgelände entfernt ist. Die Location, die für viele lange nur die „krasse Industriebrache“ oder auch „der Schandfleck“ war, ist ein Gewinn. Einmal ist hier das Kanaltheater Eberswalde aufgetreten, ein anderes Mal sollten die Besucher im Rahmen eines Workshops auf Postkarten schreiben, was sie mit diesem Ort in Verbindung bringen und wie sie ihn in Zukunft gerne sehen würden. Das Interesse an der Aktion war enorm.

In den ersten Festivaljahren bin ich jeweils nur für ein paar Wochen im Sommer nach Dahnsdorf gekommen. Aber dann habe ich gemerkt, wie sich die Idee des Festivals auch auf meine persönliche Lebenssituation übertragen hat. Ich spüre: Durch organische Transformationsprozesse entsteht etwas, was ich so bislang weder in der Stadt noch auf dem Land gefunden habe, sondern erst, als ich beides zusammen gedacht habe. Darum habe ich mein Berliner WG-Zimmer Anfang des Jahres gegen eine Wohnung in Bad Belzig getauscht. Für 380 Euro warm. In Berlin würde ich für etwas Vergleichbares 900 Euro zahlen. Auch das Kreativ-Studio für Kultur, Bewegung und Begegnung, das ich kürzlich mit vier Frauen eröffnet habe, wäre in der Stadt schon an der Miete gescheitert. Und vielleicht auch an fehlender Energie.

Ich habe mich neu in meine Heimat verliebt.“

  

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WIE GELINGT „NEUES LEBEN UND ARBEITEN IM LÄNDLICHEN RAUM“? Wir sprachen mit Frederik Bewer (47), Bürgermeister von Angermünde, und Marco Beckendorf (40), Bürgermeister von Wiesenburg/Mark in Brandenburg.

Mal angenommen, jemand war noch nie in Wiesenburg oder Angermünde und will wissen, wie es da so ist. Was sagen Sie?
FREDERIK BEWER: Angermünde mit seinen 14.500 Einwohnern ist die einzige Stadt in Deutschland, die folgendes vereint: eine historische Altstadt mit guter Infrastruktur, ein Biosphärenreservat vor der Haustür, ein UNESCO Weltnaturerbe, einen Nationalpark und die Millionenmetropole Berlin in greifbarer Nähe.
MARCO BECKENDORF: In Wiesenburg/Mark und den umliegenden 20 Dörfern und Weilern leben zusammen etwa 4300 Menschen. Wir sind nach europäischem Maßstab mit 19 Einwohnern pro Quadratkilometer ein weißer Fleck auf der Landkarte: ein nahezu unbewohntes Gebiet! Aber ein Gebiet, in dem eine Utopie gelebt wird.

Nämlich?
BECKENDORF: 80 Prozent der Menschen hier bei uns leben im Eigentum. Viele versorgen sich teils selbst und leben weitestgehend in einer Solidargemeinschaft, in der jedoch auch gegenseitige Abhängigkeiten bestehen. Wer einen Umzug aus der Stadt plant, sollte bereit sein, einen Sinneswandel zuzulassen. Der Lärm, der Schmutz, die Geschwindigkeit der Stadt sind hier fort.
BEWER: Für Angermünde sage ich gern: Wir sind nah genug dran und doch weit genug weg. In drei Jahren soll der Halbstunden-Takt für den Regio kommen, mit dem man in 50 Minuten in Berlin ist. Aktuell geht der Zug stündlich. Wenn ich aus Berlin komme, denke ich oft: Gleich bin ich ja schon da. Und gleichzeitig fühle ich, wenn ich angekommen bin: Ich bin wirklich raus.
BECKENDORF: Ich nenne die sogenannte Nabelschnur, also die Bahnanbindung nach Berlin und Leipzig, manchmal augenzwinkernd „Ausstiegsshilfe“. Im Ernst: Die Ruhe, die Wälder und die Sterne bei Nacht können auch beängstigen. Wiesenburg ist ein Gegenentwurf zur Stadt. In Anbetracht der großen Krisen, die wir in der Welt gerade erleben, spielt uns der Wunsch nach Autarkie, dem Leben als Selbstversorger, natürlich extrem in die Hände.

Bekomme ich in Wiesenburg das „echte“ Leben?
BECKENDORF: Ich würde tatsächlich sagen, dass man hier besser leben kann als anderswo. Aber man muss sich einlassen wollen. Wenn es zum Beispiel darum geht, Holz zu machen, bist du gefragt. Du hast einen Wald, dein Nachbar einen Traktor? Dann seid ihr entweder ein Team oder es entsteht Misstrauen.

Knirscht es denn vor allem zwischen den Alteingesessenen und den Neuzugezogenen?
BEWER: Diese Begriffe mag ich gar nicht. Im Ortsteil Altkünkendorf ging es mal um den Umbau am Kirchturm. Die Bewohner wurden in den Prozess mit einbezogen und auf einmal gab es diese Fragen: Ab wann ist man eigentlich Eingesessener, ab wann Zugezogener, wer ist Besucher und wer Einheimischer?

Zu welchem Ergebnis kam man?
BEWER (lacht): Die Diskussion ging ziemlich ins Detail. Wie ist das zum Beispiel mit dem etwa drei Kilometer entfernten Wolletz? Mein ältester Freund mit 91 ist Altkünkendorfer, er kam in den Fünfzigern aus Mecklenburg ins Dorf. So gesehen bin ich auch ein Zugezogener, sagte er. Was ich damit sagen will: Das Thema „alteingesessen“ und „neuzugezogen“ wird für mich künstlich hochgehalten.
BECKENDORF: Das sehe ich genauso. Letztlich wollen doch alle das gleiche: Zukunft gestalten.

Was können Sie als Bürgermeister tun, um Ihre Region attraktiv zu machen?
BEWER: Ich kann vor allem für eine gute Atmosphäre sorgen. Mein Prinzip dabei: Ich muss nicht alles gut finden, was die Leute einbringen. Unterstützung kann bereits sein, nichts dagegen zu haben.

Also lässt man die Dinge einfach laufen?
BEWER: Nein, so natürlich nicht. Mein Filter ist: Kann das positive Effekte für Angermünde haben? Ich erinnere mich an einen Unternehmer, der mir sein Vorhaben erklärte und fragte: Was halten Sie davon? Naja, meins ist das nicht, sagte ich. Da schaute er mich erst mit großen Augen an und dann sah ich förmlich, wie er in sich zusammengesackt ist. Ich habe dem Mann dann versucht zu erklären, dass meine persönliche Meinung doch nicht entscheidend sei. Ich sehe mich nicht als einen, der den Daumen hoch oder runter macht. Ich verstehe mich als Verknüpfungsstelle für die Region.
BECKENDORF: Mir geht es da ganz ähnlich. Ich glaube, dass man ein guter Bürgermeister ist, wenn man die herrschende Dynamik vor Ort und im Land versteht. Ich gehe so oft wie möglich zu Netzwerktreffen von lokalen und Initiativen auf Landesebene. Ich will wissen, was die Akteure umtreibt. So habe ich übrigens auch Frederik kennengelernt.

Herr Beckendorf, Sie haben lange in Berlin gewohnt. Wie gefällt es Ihnen auf dem Land?
BECKENDORF: Ja, ich habe viele Jahre in einem Berliner Hinterhof gewohnt, wie viele junge Brandenburger, die ihre Heimat verlassen haben. Ich kannte zwei von 20 Nachbarn. Jetzt ist das ganz anders und nicht nur, weil ich Bürgermeister bin. Wiesenburg ist sehr offen, gerade wenn man gemeinschaftliches Leben sucht. Neues Leben und Arbeiten im ländlichen Raum, das klingt ein bisschen, als würden wir jetzt alles ganz anders machen…

Aber das ist nicht so?
BECKENDORF: Vieles, was da gerade in Sachen Wiederbelebung passiert, etwa beim Thema des Mobilen Arbeitens von Zuhause, ist im Grunde nichts Neues. Die Co-Working- Spaces sind die neuen Produktionsgenossenschaften, in denen Arbeitsplätze und Ausstattung gemeinsam genutzt werden. Offen sein für neue Impulse und gleichzeitig gewachsene, tragfähige Strukturen ausbauen, darum geht es.
BEWER: Verknüpfen ist für mich ein Schlüsselwort. Wenn mir dies als Bürgermeister gelingt, ist es gut. Den Rest müssen die Leute selbst machen. Ich denke da gerade zum Beispiel an das „Haus mit Zukunft“ in Angermünde, eine große, alte Stadtvilla. Der Plan hier war, zunächst keinen Plan zu haben. Also nicht: reflexartig das betreute Wohnen oder den Pflegedienst rein. Als ich gesagt habe, wir machen das nicht, wusste ich auch nicht, was wir sonst machen. Manchmal muss man ein Stück loslassen und vertrauen, dann entsteht etwas.

 Wie ist es weitergegangen?
BEWER: Die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde hat im Gebäude Fuß gefasst, verschiedene junge, kreative Unternehmer:innen sind eingezogen. Für die Nutzer fallen lediglich die Betriebskosten an. Folgeeffekte, die man nicht in Geld ausdrücken kann, treten jetzt schon auf: Wahrnehmung, Vernetzung, Motivation, so etwas kann man vorher nicht planen.
BECKENDORF: Am Bahnhof von Wiesenburg entsteht gerade das Ko-Dorf: eine Siedlung, die die frühere Gartenstadtidee aus dem 19. Jahrhundert aufgreift. „Sharing“ ist wichtig: Die Häuser haben keine Arbeits- oder Gästezimmer, dafür gibt’s separate gemeinschaftlich genutzte Räume. Auch Autos, Fahrräder, Werkzeuge, Trockner sollen gemeinsam genutzt werden. Weniger Flächenverbrauch, nachhaltiger Mitteleinsatz.

Sind solche „Ankerorte“ entscheidend?
BEWER: Man muss sich kümmern, wenn man eine Gemeinde infrastrukturell stabil halten möchte. Man braucht Zuzug, um die Sterberate auszugleichen, allein aus den Geburten heraus funktioniert das hier nicht. Junge Menschen und Familien sind ein idealer Ansatzpunkt: Wenn die Fuß fassen und die Kinder irgendwann wieder Kinder bekommen, schafft man eine gute Entwicklung.
BECKENDORF: Ich finde es wichtig, die richtigen Leute zu finden. Kein Zuzug um jeden Preis. Wer in Wiesenburg Bullerbü erwartet, wird enttäuscht werden.
BEWER: Das sehe ich auch so. Der Charakter von Angermünde muss erhalten bleiben, deswegen leben wir hier ja so gern. Beim Zuzug gibt es keine für mich in Stein gemeißelte Zahl. Ich sag mal so: Wir wollen nicht der Speckgürtel Berlins werden.

Das Alte soll bleiben und Neues entstehen?
BECKENDORF: Es gibt eine Verantwortung im Umgang mit Bestehendem, Stichwort Industriebrachen. Jeder in den Dörfern kennt jemanden, der dort gearbeitet hat. Wenn wir die Brachen nicht revitalisieren, wird damit auch die Lebensleistung dieser Leute herabgewürdigt. Daher haben wir als Gemeinde viele dieser Brachen aufgekauft, um eine Entwicklung zu ermöglichen.
BEWER: Mein Eindruck ist, dass das vielerorts ganz hervorragend gelingt. Und dass es gerade auch diese Orte sind, die für ein gutes Miteinander von neu und alt stehen. Ich bin mir übrigens sicher: In 10 oder 15 Jahren werden wir da gar nicht mehr unterscheiden. Wer ankommt und sich einbringt ist da, fertig. Die guten alten Zeiten von morgen sind jetzt.

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