VON ISABEL STETTIN
„Provinz ist keine Landschaft, sondern ein Zustand.“ So lautet ein Bonmot von Manfred Rommel, der von 1974 bis 1996 Oberbürgermeister von Stuttgart war. Provinz ist überall. Provinz beginnt in den Köpfen – und endet dort.
Die globale Provinz, das sind jene Landstriche im „Zwischenland“, im Allgäu, in Niederbayern, in Brandenburg, wo die Städte zu Dörfern werden, sich Einfamilienhäuser aneinanderreihen, die Industriegebiete sich endlos ziehen, wo „hidden champions“ wirken. Kleinstädte und nur auf den ersten Blick verschlafene Dörfer, die eng mit dem Weltmarkt verwoben sind, wo Unternehmen lokal produzieren und weltweit handeln.
Der Lebensstil der Menschen ist urban. Die Vorzüge aus zwei Welten verschmelzen: die Vielfalt der Stadt, Idylle und Natur. Und die Menschen stellen sich Fragen: Wo sind die Grenzen des Wachstums? Und wie geht wirtschaftlicher Erfolg mit Nachhaltigkeit zusammen? Wann bremst der Wohlstand die Kreativität? Muss noch das zweite Auto in der Garage stehen? Wie bleiben wir zukunftsfähig und können uns für neue Impulse öffnen?
Provinz kann Stillstand heißen, Stabilität und Sicherheit, Festhalten an starren Strukturen. Doch wenn sich die Offenheit, der Blick für das große Ganze, die Impulse von außen daruntermischen, entsteht Neues. Provinz, das heißt auch Raum für Kreativität und Ideen, für Wachstum und Wandel. Wo es Leerstand gibt, gibt es Menschen, die ihn mit Träumen und Visionen füllen.
IN RODING IM OSTEN BAYERNS, knapp vor der tschechischen Grenze, leben Anne und Patrick Dawah – zusammen mit 12.000 Menschen aus 84 Nationen. Im Multikulti- Integrationsverein sind alle willkommen.
Vor mehr als zehn Jahren kamen Anne (46) und Patrick Dawah (49) nach Roding – nach Jahren im Harz und in OberÖsterreich. Begegnungsorte und Treffpunkte fernab von Sportverein und Schule fanden sie damals nicht. Wie gut, dass Anne Dawah eine Frau ist, die nicht lange zögert. „Dann schaffe ich eben selbst eine Möglichkeit, wo alle zusammenkommen können.“
2013, kurz nach ihrem Umzug, gründeten sie und ihr Mann den Multikulti-Integrationsverein. „Zu Beginn wurden wir Ausländer-Verein genannt. Doch das wollten wir nie sein: Integration gelingt nur im Austausch mit Menschen, die schon lange hier leben“, sagt Patrick Dawah. Fast neunzig Mitglieder aus sechzehn Nationen hat der Verein bereits. Sein Zweck, laut Satzung: „Ein besseres Miteinander durch vorurteilslosen und wertschätzenden Austausch“ zu schaffen. Roding hat er bunter gemacht. Einmal im Monat versammeln sich die „Ureinwohner“ und Alteingesessenen, Zugezogene und Geflüchtete aus der Ukraine zum internationalen Stammtisch. Sie kochen gemeinsam, weil Essen so schön verbindet: Und so köcheln in den Töpfen mal bayrische Knödel, indisches Curry oder kenianischer Eintopf. „An einem Kochabend kann es passieren, dass über 20 Nationen gemeinsam am Herd stehen", erzählt Anne Dawah. „Roding ist zum Schmelztiegel geworden.“
Oft wurden die Dawahs für Geflüchtete gehalten. „Wir haben die Erfahrung gemacht, in der deutschen Gesellschaft erstmal die Exoten zu sein.“ Ursprünglich stammt das Paar aus Kamerun, lebt heute mit drei Kindern in der Oberpfalz. Er ist Ingenieur und leitet eine Abteilung bei einem Autozulieferer, er hat in Deutschland promoviert. Sie ist Dozentin an der Volkshochschule, hat bei der Kommunalwahl 2020 für die CSU als Stadträtin kandidiert. „Wir sehen uns als Brückenbauer:innen“, sagen sie. Sie wollen kulturelle Barrieren abbauen. „Auf dem Land ist es leichter sich zu vernetzen, weil jeder jeden kennt“, sagt Patrick Dawah. „In der Stadt bist du eine Nummer, anonym, das mögen viele. Doch die Verbundenheit ist in meiner Wahrnehmung weniger intensiv.“
Jeder zehnte in Roding hat einen Migrationshintergrund. An der Grund- und Mittelschule sind 665 Schüler: innen, gut 40 Prozent haben eine Einwanderungsgeschichte. Kostenlose Deutsch- und Elternkurse werden für Eltern mit Migrationshintergrund angeboten. Anne Danwah leitet die Multikult-AG. Erst kürzlich hat ein Schüler ihr Blumen mitgebracht, als Dankeschön. Ein anderer hat gebeten, seine Mutter mitbringen zu dürfen, weil sie mitlernen wolle. „Kinder der zweiten Generation haben andere Erfahrungen als die Rodinger“, sagt Dawah. „Die Geschichte der Eltern und Großeltern bringen sie ein.“ Außerdem können auch Rodinger mit typischen Familiennamen wie „Schwarzfischer“ oder „Hecht“ Vorfahren aus Ungarn, Tschechien oder der Slowakei haben.
In diesem Jahr haben die Rodinger den siebzigsten Geburtstag ihres Städtchens gefeiert. Einst vor allem bekannt als Bundeswehrstützpunkt, ist Roding heute ein internationaler und begehrter Industriestandort mit 8.000 Arbeitsplätzen geworden. Dass mit dem Technologieunternehmen Mühlbauer ein Global Player entstanden ist, und die Gabelstapler-Firma Crown das Hauptquartier aus den USA nach Roding verlegt hat, darauf ist die Stadt stolz. Der Autozulieferer Continental schließt sein Werk dort zwar bis 2024, doch ein großes Softwareunternehmen hat die Übernahme des Firmengebäudes bereits angekündigt. Das Industriegebiet wird aktuell erweitert. Ein neu erschlossenes Baugebiet war innerhalb weniger Wochen ausverkauft.
Ihre Stadt noch offener zu machen, Kooperationen mit afrikanischen Ländern, Städtepartnerschaften, das wünschen sich die Dawahs für die Zukunft, ein buntes, vielfältiges Roding. „Das Globale in der Provinz entsteht in den Köpfen von Menschen, die sich bewegt haben und bewegen“, sagt er.
MICHAEL HETZER (54) IST UNTERNEHMER – und hat Visionen einer nachhaltigen Welt. 2016 hat er das Familienunternehmen elobau im Landkreis Ravensburg mit über 1000 Mitarbeiter: innen in eine Stiftung überführt. Als Angel-Investor setzt er seinen Schwerpunkt auf ökologische Landwirtschaft und klimafreundliche Technologien.
„Wirtschaftlich denken und verantwortungsvoll zu handeln, bedeutet oft eine Gratwanderung. Noch haben wir nicht den idealen Pfad, aber wir arbeiten daran. So wie viele in Corona-Zeiten Nudeln horteten, haben Unternehmen bei uns Sensoren eingekauft. Die Geschäfte liefen hervorragend. Doch in unserem Unternehmen geht es nicht um grenzenloses Wachstum. Die Natur wächst auch nicht unendlich. Es bedarf Phasen der Erholung und Regeneration. Auch das lehrt uns die Natur.
Wir haben in den vergangenen Jahren Chancen versäumt. Die Erkenntnis, dass wir alle viel zu viel verbrauchen, haben wir schon lange. Und dennoch ändern wir als Gesellschaft kaum etwas. Selbst jetzt, wo wir aufgrund von Krisen und Krieg eine Verknappung erleben, fehlt die Bereitschaft zu echter Veränderung. Wir machen so weiter wie bisher, ist das Credo. Anstatt endlich zu schauen, wie wir weniger verbrauchen können.
Als Unternehmer und Bürger widme ich mich Themen, die global von Bedeutung sind – und die ich in der Politik manchmal vermisse. 2010 wurde unser Unternehmen elobau klimaneutral und ist ein Exot in der Branche. Dabei könnte sich betriebswirtschaftlich jeder Mittelständler diese Anpassungen leisten. Jedes Unternehmen hat eine gesellschaftliche Verantwortung. Doch noch fehlt bei vielen die Bereitschaft, auch weil Kund:innen nicht bereit sind, mehr dafür zu bezahlen. Hier würde ich mir mehr Anreize wünschen.
Unsere Firma für nachhaltige Lösungen aus den Bereichen Bedienelemente, Maschinensicherheit, Füllstandsmessung und Sensorik haben wir in Verantwortungseigentum überführt. Sechs Jahre lang hat das gedauert, ein komplizierter Prozess. Das Unternehmen gehört sich nun selbst, Selbstbestimmung statt Spekulation. Die Eigentümer:innen haben keinen Anspruch darauf, sich Gewinne auszuschütten oder Vermögensanteile zu verkaufen. Der erwirtschaftete Mehrwert fließt in das Wohlergehen der Mitarbeiter:innen, in klimaneutrale Lieferketten oder in Spenden für gesellschaftliche Aufgaben, insbesondere Bildung, Umweltschutz und Integration. Wir wollen maßvoll sein und das auch bleiben.
Bei elobau beschäftigen wir uns mit Lieferketten, als kleines Unternehmen in der globalen Welt. Wir agieren international, produzieren jedoch nur in Deutschland. Unsere Vision ist es, Produkte zu entwickeln, die am Ende zu neuen Produkten werden. Der Wertstoff, den wir sammeln, soll tatsächlich mehr Wert haben. Eine nachhaltige, regenerative Landwirtschaft ist das erklärte Ziel. Darum unterstütze ich die Entwicklung von Prototypen, Geräte wie E-Traktoren und Agroforst-Sähmaschinen. Wenn wir in der Landwirtschaft so weitermachen wie bisher, laugen unsere Böden aus. Dann ist in sechzig Erntejahren Schluss. Wir brauchen Veränderung heute, nicht morgen.
Als ich ein Junge war, konnten wir hier im Allgäu bis April Schlittenfahren und Skilanglaufen. Schnee hatten wir damals in Leutkirch zu Genüge. Das hat sich verändert. Der Klimawandel ist spürbar – und das nicht erst seit heute. Ich bin noch immer sehr gern hier zuhause, in meinem Dorf mit wenigen hundert Einwohnern. Die Region fasziniert mich, es gibt Weideflächen, Milchviehbetriebe. Wir bekommen hier viel Regen ab, es ist grün, geprägt vom Tourismus. Natürlich haben wir keine Großstadtangebote und für viele bleibt es eine Herausforderung, Personal zu finden. Noch haben wir genug Interessent:innen, die zu uns kommen wollen, sogar deswegen herziehen. Die Autobahn liegt vor der Tür. Zwei große Industriegebiete werden gerade hochgezogen. Immer mehr Menschen aus der Stadt ziehen hierher.
Damit wir als Gesellschaft zukunftsfähig sind, müssen wir umdenken. Das beginnt für mich bei der Bildung: Junge Menschen müssen wir zu selbstdenkenden, selbstorganisierten Menschen erziehen.“
WIE KÖNNEN WIR UNSERE DORFGEMEINSCHAFT BEREICHERN? Wie gelingt die sozial-ökologische Transformation? Und welche Rolle kann dabei die Kirche spielen? Anja Hirscher (36) arbeitet bei K-Punkt Ländliche Entwicklung im Kloster Heiligkreuztal zwischen Ulm und dem Bodensee. „Wie ein Knotenpunkt vernetzen wir Akteur:innen aus Zivilgesellschaft, Politik, Kirche und Wirtschaft.“
Zugegeben, manchmal vermisst Anja Hirscher Helsinki, eine der führenden Designmetropolen der Welt, Hauptstadt der Kreativen. Sieben Jahre lang hat sie in Finnland gelebt und geforscht, hat Design und Nachhaltigkeit studiert und promoviert. Wie Ehrenamtliche den Lebensraum gestalten, sich beteiligen, das stand dabei für sie im Mittelpunkt. Und genau in diesem Feld bewegt sie sich heute in ihrer Arbeit für K-Punkt, Knotenpunkt, der Regionalentwicklungsinitiative der katholischen Kirche. „Als kirchliche Einrichtung tragen wir zur Entwicklung von Gemeinden bei“, sagt sie. „Wir geben Impulse und ermutigen Menschen, ihren Lebensraum zu gestalten.“
Hirscher ist dafür zurückgekehrt in ihre Heimat, zurück zu den Wurzeln. Die Weite des Horizonts hängt längst nicht mehr von der Höhe des Kirchturms ab. Die Glaubensgemeinschaft hat an Bedeutung verloren – und verliert immer mehr. Der Gottesdienst als Treffpunkt? Vorbei. Von der Kirche fühlen sich gerade junge Menschen kaum mehr repräsentiert. „Doch sie hat wahnsinniges Potenzial im ländlichen Raum und übernimmt Verantwortung. Es gibt ein großes Netzwerk von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen, unzählige Kirchengebäude und Gemeindehäuser sowie Grundstücke für das Gemeinwohl“, sagt Hirscher. Der K-Punkt ist von der Diözese ins Leben gerufen worden, das Team zusammengewürfelt aus unterschiedlichen Expertisen, von Geografie bis Pädagogik.
„Wir wollen eine offene Kirche sein, auf die Menschen zugehen, Räume schaffen. Es gibt viele engagierte Bürger: innen mit Ideen und unzählige ungenutzte oder nur sporadisch genutzte Gebäude im Ortskern.“ Raum, der mit mehr Leben gefüllt werden will, Dorfhäuser sollen entstehen, Begegnungsorte. „Wir analysieren vor Ort, welchen Bedarf gibt es. Was wünschen sich die Menschen?“ Coworking- Spaces in kirchlichen Gebäuden, „nicht den sakralen wohlgemerkt“, sind vorstellbar. „Kirche hat all die Gebäude, die kosten wahnsinnig viel, verbrauchen Ressourcen, die werden aber nur zweimal die Woche benutzt. Das ist weder zeitgemäß noch nachhaltig.“
Derzeit tüftelt Hirscher an einem mobilen Experimentierlabor und Begegnungsort, einem Bus, der von Dorf zu Dorf ziehen und zu Diskussionen anregen soll: zwischen Jung und Alt. Bezahlbarer Wohnraum, barrierearmes Wohnen für ältere Menschen, gemeinschaftliches Leben, das zählt Hirscher zu den größten Herausforderungen.
Dorfkneipen gibt es kaum mehr. Doch dafür ist s‘Himmelreich nah: Etwa siebzig Kilometer entfernt in Merazhofen entstand im alten Pfarrhaus ein Schmuckstück, ein Kleinod mit Café und Museum, Platz für die Seelsorge und den Kirchengemeinderat. „Solche Ort brauchen wir, an denen überkonfessionell Verbindungen entstehen. Die Ressourcen werden knapper, wir müssen zusammenrücken“, sagt Hirscher. Noch halten viele am Dreiklang fest: mein Haus, mein Garten, mein Auto. „Es herrscht manchmal eine gewisse Angst davor, dass einem etwas weggenommen wird. Viele reagieren sensibel, wenn es um ihren Besitz geht.“
Dass Hirscher selbst ihr Auto verkauft hat, mit dem Rad fährt und auf den öffentlichen Nahverkehr setzt, dafür erntet sie erstaunte Blicke – zwischen Anerkennung und Unverständnis.
„Ich habe einen anderen Blick, weil ich von hier stamme und zugleich Einflüsse von außen mitbringe.“ Es werden immer mehr Menschen aufs Land ziehen, die Digitalisierung, die Entwicklung hin zum ortsunabhängigen Arbeiten machen es möglich. Je mehr Menschen sich dafür entscheiden, desto mehr werden solche Konzepte entstehen, Carsharing und andere Modelle, weg von der Mentalität: Jede:r braucht alles und muss alles haben. Stadtkultur auf dem Land zu schaffen, so nennt Hirscher ihre Motivation. „Viele kehren wieder zurück, so wie ich. Der soziale Aspekt ist dabei natürlich ganz wichtig.“ Ein Haus der Nachhaltigkeit schwebt ihr vor, mit Unternehmen, Vereinen, ein Ort mit Möglichkeiten zur Entfaltung.
„Für mich bereichernd ist das nachbarschaftliche Umfeld, dass wir uns hier mit Empathie begegnen.“ Hirscher brennt dafür, Kirche und Kommune zu verbinden. Erst zuhören, dann Neues anregen, das ist für sie der Weg. „Es geht nicht darum, den Menschen Konzepte aufzudrängen, stattdessen wollen wir gemeinsam gestalten.“ Dass sich die Gemeinschaft öffnet, für neue Ideen, für Menschen auch fern der Region, das will Hirscher fördern. „Letztlich hängt es von uns als Gemeinschaft ab.“
NORBERT BÄUML (57) IST INGENIEUR und arbeitet im Amt für Ländliche Entwicklung Oberbayern. Mit einer Initiative der Bayerischen Verwaltung unterstützt er kreative und ideenreiche Menschen dabei, ihre nächsten Schritte in ihrem „HeimatUnternehmen“ zu gehen.
„Ich lebe ländlich geprägt, schon immer – und bin ein typisch Zugewanderter. Ursprünglich stamme ich aus einem Dorf in der Oberpfalz. Heute wohne ich am Ende des S-Bahn-Netzes in Altomünster im Landkreis Dachau und pendle zu meinem Arbeitsplatz nach München. Viele bewegen sich täglich zwischen Stadt und Land. Die Grenzen fließen und lösen sich hier auf. Mitten in München würde ich nicht leben wollen. Doch natürlich genieße ich die Vorteile. Es ist ein gutes Gefühl, dass die beste medizinische Versorgung nur eine kurze Fahrt entfernt ist, dass es ein unerschöpfliches kulturelles Angebot gibt.
Wohneigentum in der Stadt zu bekommen ist inzwischen fast unmöglich. Auch deshalb hat das Landleben deutlich an Attraktivität gewonnen – für junge Menschen und Familien. Doch der Ballungsraum mit den entsprechenden Preisen dehnt sich immer weiter aus.
Vieles, was uns in Stadt und Land bewegt, steht im globalen Kontext: vom Klimawandel bis hin zur Ernährung. Oft höre ich von Bürger:innen oder auch in Verwaltungen, wenn etwas nicht vorangeht: „Man müsste mal, jemand könnte, eine sollte“, heißt es dann. Doch vor Ort, in der „globalen Provinz“, geht es darum, den Dreh zum „Ich mache es selbst“ zu bekommen. Wir finden Lösungen für unsere Probleme vor Ort und arbeiten damit auch ein Stück an den Herausforderungen, denen wir überall auf der Welt begegnen.
Im Amt bin ich für die grünen Grundsatzfragen zuständig, von Biodiversität bis zum Klimawandel, alles, was mit Ökologie zu tun hat. Es geht nicht nur um die gesetzlichen Rahmenbedingungen, sondern immer um die Frage: Welche Ansätze brauchen wir in der Zukunft als Verwaltung für Ländliche Entwicklung?
Aus den Erfahrungen mit „boden:ständig“, einem Projekt für Boden- und Wasserschutz, haben wir 2017 so „HeimatUnternehmen“ entwickelt. Wir arbeiten mit Menschen, die diejenigen, die selbst machen wollen, gezielt von der Idee zum Projekt begleiten. Unsere Potential-Entfalter:innen unterstützen die unternehmerischen Menschen vor Ort – beim Erstellen von Geschäftsmodellen etwa. Ein bayernweites Netz soll wachsen.
Ich bin Pragmatiker: Ohne Bürokratie geht es nicht. Wir brauchen Spielregeln, aber auch Spielräume, Gestaltungsräume. Selbst in den peripheren Regionen in Bayern scheitern Projekte selten am Geld. Das ist vorhanden, viele Menschen vor Ort investieren gerne in gute Projekte – wenn sie denn erst einmal entstanden sind. Wenn wir die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, gibt es viele Menschen, die die Dinge gerne selbst in die Hand nehmen. Wir brauchen eine Kultur des Gestaltens und des Anpackens. Dazu gehört für mich, dass auch mal etwas schiefgehen darf, dass wir mit Hürden und Widerständen besser zurechtkommen und lernen, diese zu überwinden, etwa im Bereich Energie: Vor Jahren galten die als Spinner, die im Dorf ein Nahwärmenetz oder Hackschnitzel-Heizungen bauen wollten. Und heute?
Wie schaffen wir es, dass Pioniere mit ihren Ideen stärker zum Zug kommen? Das Potential, die Ideen, die Kreativität ist groß. Doch wie gelingt es, das zu kultivieren? Ein Beispiel: Wo ich wohne, war vor zehn Jahren das große Problem, die Gemeinde mit all ihren Ortsteilen digital anzubinden. Für die Telekom rentierte sich das nicht. So haben sich Bürger:innen zusammengefunden, die ein Unternehmen gründeten. Vor zehn Jahren ist ein Glasfasernetz entstanden, mitten auf dem Dorf. Die Gemeinde unterstützte das Bürger-Startup politisch und finanziell – und ermöglichte, dass Menschen hier selbst etwas erschaffen konnten, während der Breitbandausbau bundesweit oft noch zäh läuft.
Wir brauchen dringend solche Ansätze, damit Menschen selbst ihr Umfeld gestalten können, bundesweit.
In unserer globalisierten Welt mit all den aktuellen Krisen und Kriegen droht oft das Gefühl, dass alles entgleitet, wir die Kontrolle verlieren. Doch hier im Kleinen gibt es die Möglichkeit, viel zu bewegen.“
WIE WOLLEN WIR LEBEN, ARBEITEN UND ZUGLEICH UNSERE REGION BELEBEN? Janosch Dietrich und Christian Skrodzki sind Netzwerker und entwickeln Konzepte für Arbeit und Urlaub auf dem Land. Ein Gespräch über Hürden und Chancen.
Christian Skrodzki aus Leutkirch im Allgäu leitet zwei Werbeagenturen, ein digitales Zukunftszentrum und einen historischen Dorfgasthof mit Genusshotel. Mit seinem bürgerschaftlichen Engagement hat er unter anderem den „Leutkircher Bürgerbahnhof eG“ und die „Allgäuer Genussmanufaktur eG“ initiiert. Mit seinem Projekt „Heimat Bärenweiler“ in der Nähe von Kißlegg möchte er nun ein brachliegendes Dörfchen wiederbeleben.
Janosch Dietrich ist einer der Gründer von „COCONAT“ in Klein Glien in Brandenburg: COmmunity and COncentrated work in NATure, Gemeinschaft und konzentriertes Arbeiten in der Natur. Kreative aus aller Welt können sich Zimmer und Büroplätze mieten, im Durchschnitt sind es dreißig Gäste. Das „COCONAT“ hat mittlerweile 17 Beschäftigte, davon sieben Vollzeitkräfte. Ländliche Entwicklung fördert er durch ein Tourismusmodell, das Workation (work plus vacation), Coworking und Coliving vereint. Er ist außerdem Gründer und Vorstandsvorsitzender des lokalen „Smart Village e.V.“
Sie teilen beide eine Vision vom Zusammenleben und Arbeiten auf dem Land. Was treibt Sie an? CHRISTIAN SKRODZKI: In erster Linie bin ich Weltbürger, ein dörflicher Kosmopolit, der gern über den Tellerrand hinausschaut. Wenn ich hier dazu beitrage, den Dorfgasthof zu retten, bekomme ich Anerkennung. Würde ich ein Sechs-Familienhaus in Düsseldorf kaufen, nicht. Als Heimatinvestor bekomme ich eine sinnstiftende Rendite. Ich sehe mich in der Verantwortung und kann sofort profitieren, weil ich meine Heimat so auch für mich lebenswerter gestalte. Was bei euch vor den Toren Berlins passiert, Janosch, beeindruckt mich, seitdem ich einen Vortrag von dir gehört habe. Wenn sich die Chance ergibt, so etwas im Allgäu zu machen, möchte ich das auch, dachte ich damals… In Bärenweiler habe ich die Möglichkeit. Die Alpenkette ist zu sehen, die Autobahn nur drei Kilometer entfernt. Hätte ich es malen können, es sähe so aus. Wir planen einen Kindergarten, ein Café, selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Einschränkungen, „Cow“- Working im ehemaligen Kuhstall, ein Event-Stadel im früheren Heuboden...
JANOSCH DIETRICH: Positive gesellschaftliche Effekte haben für uns grundsätzlich einen höheren Stellenwert als Gewinnmaximierung. Schon zu Beginn haben wir gezeigt: Wir interessieren uns wirklich für die Menschen hier. Und haben einen Bezug zur Umgebung. Wir bewegen uns nicht im Elfenbeinturm als digitale globale Elite, sondern in der Gemeinschaft. Diversität ist es, was Innovation schafft. Darum wollen wir alle zusammenbringen, Menschen aus hohen und niedrigen Einkommensschichten, Großunternehmer: innen und Gründer:innen, die Alteingesessenen, „Ureinwohner:innen“ und die Gäste. Die Kunst ist es, das Beste von Stadt und Land zu vereinen: Natur und Ruhe, die Vielfalt, digital und analog. Wir wollen einen Hybridort schaffen, der die Welt in diese dünn besiedelte Gegend bringt, ein Ort für die Region.
Wie gelingt das?
DIETRICH: Ich habe nie auf dem Land gelebt, sondern mitten in Berlin. Die Städter:innen, die „Welt“, waren für uns zunächst einfacher zu erreichen als das Dorf. Der erste Bericht über uns erschien in der New York Times. Doch mittlerweile haben wir eine Bürgerzeitung gefördert, einen Podcast, eine Bürger:innen-App. Wenn wir ein Dorffest veranstalten, schaffen wir Stadt-Land-Verbindungen. Es gab Vorbehalte, auf beiden Seiten: berechtigte Sorgen vor rassistischen Übergriffen, die Angst, hier kein veganes Essen zu bekommen, an einem gottverlassenen Bahnhof in der Provinz zu stranden… Und seitens der Menschen vor Ort Skepsis: Dieses Gefühl abgehängt zu sein, war hier viel präsenter. Kneipen machten dicht, Schulen schlossen, Wohnungen wurden zurückgebaut. Wichtig waren uns darum schon vor Beginn gemeinsame Infoveranstaltungen, Transparenz.
SKRODZKI: Bei uns ist es komplett anders. Janosch musste wiederaufbauen, wir wollen den Abbau verhindern. Während in Brandenburg etliche Gasthäuser leer stehen, schließen sie bei uns erst. Wir haben einen Dorfgasthof renoviert in einer Zeit, als andere zugemacht haben. Unsere Kommunen sind reich, hier tummeln sich Weltmarktführer. Doch für viele Ideen fehlt der Platz, Freiraum. DIETRICH: Wir hingegen haben Raumwohlstand. Der Verdrängungswettbewerb findet so nicht statt. Wenn wir eine Pop-up-Pizzeria eröffnen, beschwert sich kein Gastronom. Wenn du einen Dorfgasthof übernimmst, kann ich mir vorstellen, dass andere Wirt:innen denken: „Da gräbt der Christian uns jetzt auch noch das Wasser ab“…
SKRODZKI: Tatsächlich gab es solche Sorgen, ja. Doch kein einziges Lokal musste deswegen „sterben“, im Gegenteil. Der Bürgerbahnhof, den wir wiederbelebt haben, hat vieles in Bewegung gebracht.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung aus Ihrer Sicht?
DIETRICH: Früher war der Marktplatz in der Stadt, alle sind dort hingefahren, haben Waren ausgetauscht, Informationen. Das findet natürlich immer mehr online statt. Dadurch wird die Provinz Teil des Marktplatzes: mit dem gleichen Zugang zu Informationen und Waren. Eine Riesenchance. Zugleich besteht die Gefahr, dass einige nicht daran teilhaben können. Ich glaube, der ländliche Raum hier in Brandenburg überspringt die Industrialisierung, anders als im Allgäu, und tritt direkt ins digitale Zeitalter.
SKRODZKI: Bei uns ist auch das anders. 2017 haben wir das „Digitale ZukunftsZentrum Allgäu Oberschwaben“ gestartet. Die Digitalisierung könne neue Aufträge generieren, so warben wir. Da haben alle abgewunken: „Brauchen wir nicht.“ Viele Betriebe wissen gar nicht, wie sie ihre vollen Auftragsbücher abarbeiten sollen – noch. Aber irgendwann könnte es einen Quantensprung geben. Darum müssen wir die Leute, die Unternehmen dafür sensibilisieren, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Sonst kann es sein, dass Handwerksbetriebe von egal wo jene vor Ort überholen, weil sie die unendlichen Vorteile der Automatisierung und Digitalisierung nutzen.
DIETRICH: Hier in Brandenburg kämpfen die Handwerksbetriebe vor allem um Nachwuchs. Da macht die Frau in der Küche, in der es nach Erbsensuppe riecht, die Buchhaltung. Das ist unattraktiv für junge Menschen. Der Mittelstand fehlt hier. Bei uns gibt es nun flexible Arbeitsplätze für Handwerker:innen. Wir stellen Technik und Wissen bereit: Eine Tischlerei, die Kirchenfenster herstellt, und eine Kerzenmanufaktur planen zum Beispiel unseren 3DScanner und Drucker zu nutzen. Eine lokale Unternehmerin plant einen Verkaufsraum für lokales Kunsthandwerk und die Produkte des „COCOLAB“-Makerspaces.
SKRODZKI: Viele haben heute ein zweigeteiltes Leben mit der Einzimmerwohnung für die Arbeit in der Stadt, am Wochenende leben sie auf dem Land. Junge Talente wandern ab. Das finde ich gut, wenn sie Neues entdecken. Wenn sie gemerkt haben, in Stuttgart und Frankfurt gibt es tolle Kneipen, aber auch viel Smog, kommen sie inspiriert und reich an Ideen zurück.
Wo liegen derzeit Ihre Herausforderungen?
DIETRICH: Für die auf dem „COCONAT“-Gelände geplante Tiny-Haus-Siedlung Coco Cabañas müssen wir so viele Anträge einreichen und Genehmigungen abwarten, dass es von Planungsbeginn bis Baubeginn mindestens vier Jahre dauert. Verwaltungstechnische Probleme wie das Baurecht verhindern viele Innovationen.
SKRODZKI: Bei uns gibt es Tendenzen der Abschottung. Wir dürfen uns nicht vor dem Fortschritt abkoppeln. Wir sind die sonnenreichste Region Deutschlands, haben eine Arbeitslosenquote von nur 2,2 Prozent, wenig Kriminalität. Das heißt aber nicht, dass es so weitergeht und der ländliche Raum sexy bleibt, wenn wir nicht hungrig bleiben.
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