Über den Raumtyp: Multicodierte Regionen

„Multicodieren“, das klingt nach einer Horde Programmierer, die Tastaturen klappern lassen.

VON JAN RÜBEL

„Multicodieren“, das klingt nach einer Horde Programmierer, die Tastaturen klappern lassen. In Wirklichkeit aber kennt die multicodierte Region nichts von oben herab, kein Mastermind. Sie ist mehr ein Netzwerk, eine dichte Wechselbeziehung zwischen dem, was wir gemeinhin „Stadt“ und „Land“ nennen. Diese Begriffe verschwimmen nicht, verlieren aber ihren trennenden Stempel. Die multicodierte Region kann die Frankfurter City ebenso umfassen wie das Winzerdorf ein paar Kilometer weiter.

Sie vermutet man vielleicht am häufigsten in Deutschland, kennt sie doch das Pingpong aus verdichtetem Raum, Vorstädtischem, Naherholung und Ackerbau. Sie ist der offenste Raumtyp. Daher gibt es auch keine maßregelnde Perspektive. Gemeingut ist hier die Diversität, das Denken von einer Ansammlung verschiedener Infrastrukturen her, welche die Phantasie beflügeln.

Da ist nicht nur der Verkehr, sondern der Bildungszugang, da sind Netzwerke von Menschen und Unternehmen vor Ort – das Werken an einer Zukunftsfähigkeit – wie in der Dörfergemeinschaft Flegessen-Hasperde-Klein Süntel. Paul David Rollmann etwa kombiniert von seinem Dorf aus, wie es die Metropolen befruchtet und andersrum. Und Fabian Schrader kümmert sich um queeres Leben auf dem Land. Schließlich liebt Bijan Kaffenberger beim täglichen Nutzen des ÖPNV die Gemeinsamkeit, das Miteinander.

Vielleicht ist es das Zauberwort der multicodierten Region: nicht einfach selber machen, sondern ein neues „Wir“.  

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DAS URBANE UMRINGT FLEGESSEN, Klein Süntel und Hasperde – und dennoch scheinen Hannover, Hameln und Hildesheim von dieser Dörfergemeinschaft weit weg. Die Einwohner werkeln an ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit.

Mit einem Schlag endet der Autolärm, als es von der Bundesstraße abgeht. Hin zum Sackgassendorf Flegessen, entlang Feldern von Weizen und Rüben, zieht der Süntel den Blick auf sich. Geografisch ist die Angelegenheit besiegelt: Dieser 440 Meter hohe Mittelgebirgsstock südwestlich von Hannover regiert den Raum. Doch die drei Dörfer mit ihren 1500 Einwohner:innen, die an seinem Hang kleben, übersieht man leicht. Provinz eben, Örtchen zum Einschlafen, bevor es wieder zum Job in die Landeshauptstadt oder nach Hameln geht? Die Dörfer Flegessen, Klein Süntel und Hasperde entschieden sich für einen anderen Weg.

Zukunftsfähig solle ihre Gemeinschaft werden, entschieden sie. Lebendig sein. Und da ihnen keiner half, in dieser Abgeschiedenheit, halfen sie sich selbst. In einer Zoom-Sitzung erklärte einer der Bewohner, wie es dazu kam – in Hannover ist er Herr Prof. Austmann für Betriebswirtschaftslehre, aber in der Dörfergemeinschaft ist er Henning, Fußballtrainer der D- und B-Jugend der JSG Flegessen Süntel. Im Gespräch macht er gleich klar, worum es ihnen geht – und worum nicht.

Hier geht es nicht darum, ein Ökodorf aufzubauen. In Wirklichkeit wollen wir uns als ein ganz normales Dorf an die Frage heranwagen, wie unser Ort zukunftsfähig sein kann – und wie sowas multiplizierbar wäre.

Warum?
Henning Austmann: Nun, wenn wir als Menschheit dauerhaft auf dem Planeten klarkommen wollen, haben wir an allen Orten sehr, sehr schnell einen Beitrag für eine tiefgreifende Transformation zu leisten. Da so ein Wandel nicht von oben ausgelöst wird, machen wir es von unten. Verschiedene Krisen umgeben uns. Weitere werden auf uns alle zukommen. Konkret bedeutet das für unsere drei Dörfer, dass wir binnen drei Jahren ein Sechstel unseres Waldes verloren haben. Unsere Landwirte werden entmutigt, weil ihnen zu bestimmten Zeiten das Wasser fehlt und zu anderen Zeiten so viel Niederschlag kommt, dass sie mit ihren Maschinen gar nicht auf die Felder kommen. Und sie haben zunehmend mit Schädlingen zu tun, die sie noch gar nicht kannten.

Den letzten Kilometer nach Flegessen geht es zu Fuß, den „R-Bus“ hätte man „rufen“ müssen, mindestens eine halbe Stunde im Voraus. Fachwerk prägt das Bild, mit alten Inschriften wie „Dein Segen Herr komm über uns“ an der Tür und Solarpanels auf dem Dach. Die Hauswände dokumentieren mit salatschüsselgroßen Plaketten, wer wann Bürgerkönigin oder Bürgerkönig gewesen ist. Die Dörfergemeinschaft hat aber nicht nur Preise vergeben, sondern viele andere von außen gewonnen, „Bundessieger Neue Nachbarschaft“, „Deutscher Bürgerpreis“, „Europäischer Dorferneuerungspreis“ sind nur einige. Was ist hier anders als woanders?

Was ist eigentlich passiert?
Austmann: Am Anfang stand eine klassische Herausforderung: Die Grundschule sollte wegen kleiner Klassen geschlossen werden. Da gab es einen gemeinsamen Nenner, dass es nicht gut sein kann, wenn solch eine Hauptschlagader der Dörfergemeinschaft ausfällt. Und wir alle wussten, dass sich Schülerzahlen nach oben entwickeln können: Gab es doch viel Potenzial, um mehr Menschen in schon bestehendem Wohnraum unterzubringen. Wer das aktiv gestaltet, kriegt die Schule wieder voll. Letzen Endes aber hatten wir schlicht Glück – eine andere Schule wurde geschlossen, unsere blieb erhalten. Das war vor zehn Jahren.

Und heute?
Austmann: Der Kindergarten platzt aus allen Nähten, und die Grundschule muss anbauen. Der freie Wohnraum wurde bezogen, und immer mehr Leute wechseln auch zu einer kleineren Wohnfläche. Die Debatte um die Schulschließung hatte schließlich neue Selbstwirksamkeitspotenziale freigesetzt. Daraus entwickelte sich die erste Ideenwerkstatt: Da kamen 120 Leute hin. Und da wurde ganz breit gesponnen, was wir uns für unsere Dörfer wünschen und erträumen. Später gesellte sich auch immer mehr der Gedanke hinzu, dass es auch um Nachhaltigkeit geht. Wir wollten im Grunde eines: Dauerhaft lebendige Dörfer.

Ideen sind das eine, die Tat etwas anderes…
Austmann: Das gemeinsame Zusammentragen und anschließende Visualisieren all der vielen kleinen und großen Wünsche setzte eine Energie frei, mit der wir bis heute mit großer Freude zusammen daran wirken, die Ideen Stück für Stück in die Tat umzusetzen. Am Anfang viele kleinere Ideen, später aber auch immer größere Projekte.

Womit?
Austmann: Wir gründeten zum Beispiel eine Zeitung, die eine große Wirkung zeitigte: Damit wurde bestehendes Wertschätzen möglich, die Vereine konnten über sich berichten – die Tageszeitung der Region nimmt unsere drei Dörfer kaum in Augenschein. Andere Bürger organisierten eine Staudentauschbörse oder Kinoabende in der Kirche. Das war alles rasch umsetzbar und trägt uns bis heute. Zum Beispiel haben wir eine WhatsApp-Gruppe für Mitfahrgelegenheiten und Tausch von Allerlei, da sind jetzt 250 Leute drin. Schließlich wagten wir uns an größere Investitionen heran. Wir hatten ja gelernt, uns zu vertrauen und uns etwas zuzutrauen. 270 Leute stemmten ohne Fördergelder 260.000 Euro, mit denen wir unseren eigenen Regio-Bio-Dorfladen in Bürgerhand bauten. Wir alle wurden stille Beteiligte in einer Unternehmung genossenschaftlicher Prägung. Diese vermietete das Ladengebäude an einen Verein von 210 Leuten, die ihn gemeinsam ehrenamtlich betreiben. So kam wieder Lebensmittelversorgung in unsere Dörfergemeinschaft. Mit einer anderen von uns im Kollektiv gegründeten Unternehmung kauften wir der Kirche das Grundstück des Pfarr- und Gemeindehauses ab, sanierten es mit regionalen ökologischen Baustoffen und vermieten es an eine neu gegründete Mehr- Generationen-Gemeinschaft; eine Gewinnorientierung für die Beteiligten ist dabei per Satzung ausgeschlossen. Überschüsse werden im Dorf reinvestiert.

Am Ortsausgang prangt ein grünes M auf gelbem rundem Grund. Das Schild steht für den „Mitnahmepunkt“ – für alle ohne Auto und auf den Ruf-Bus Wartenden. Okay, Daumen raus. Gegenüber streitet sich eine Bande Spatzen. Nach 25 Minuten hält ein Hyundai, Mutter und Tochter auf dem Weg gen Hameln. „Wollen Sie mit?“ Eigentlich nicht, ist doch zu nett hier. Aber wie der Norddeutsche hier sagt: Mutt ja.

  

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Bild: ©Katharina Bauer Photography

BIJAN KAFFENBERGER NENNT SEINEN WAHLKREIS „MINI-HESSEN“. Er sagt: Da ist alles drin. Der Landtagsabgeordnete bereist ihn mit dem ÖPNV. Und lernt ihn kennen wie kaum andere Politiker:innen.

Erfolg kommt für Bijan Kaffenberger eingleisig daher, und dann auch noch teilweise nicht elektrifiziert. „Jeden Morgen ist sie brechend voll“, sagt er über die Odenwaldbahn. "Aus dem tiefen Wald in 35 Minuten nach Frankfurt, was will man mehr?“

Kaffenberger (33) kennt die Bahn, er benutzt sie oft, bildet sie doch eine Achse durch seinen Wahlkreis. Er benutzt nahezu täglich den ÖPNV, auf dem Weg durch sein „Mini-Hessen“, wie er die Region nennt. „‘Darmstadt 2‘ suggeriert, dass es ein Stadtwahlkreis sei, aber da gehört zum hoch verdichteten Darmstädter Süden auch eine Reihe von Landkreiskommunen.“ Die südlichste, Modautal, gehört offiziell zum ländlichen Raum. „Vormittags kann ich beim Start einer Weltraumrakete beim ESA-Kontrollzentrum in Darmstadt sein und nachmittags beim Bundesverband der mobilen Hühnerzüchter in Modautal.“

Über Kaffenberger sagen manche, er sei eine Hoffnung für die in Hessen gerade nicht wohlgelittene SPD. Mit 29 Jahren zog er in den Landtag als jüngster Abgeordneter ein, eroberte als einziger in seiner Fraktion ein Direktmandat von der CDU zurück. Mit seiner schwarzen Tolle über schwarzer Brille und einem schnellen Zungenschlag wirkt er gleich ab dem ersten Moment nahbar. Wie einer, der tatsächlich gern bei den Hühner-, Kaninchen- und Brieftaubenzüchtern vorbeischaut. Er pendelt zwischen Hightech von Merck in der City und Landwirtschaft auf dem Land – wo es keinen Handyempfang gibt „und ich dafür sorgen muss, dass da endlich ein Mobilfunkmast hinkommt“.

Das alles findet in einem eigentlich sehr engen Raum statt. Die Rhein-Main-Region kennt Pendeln kreuz und quer, da ist nichts auf ein Zentrum hin ausgerichtet; es gibt längst nicht nur das berufliche Rein und Raus aus der Stadt. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler Kaffenberger sucht das System hinter diesem Raum, nicht nur das bloße Funktionieren von Infrastruktur, auch wenn er sie als „Basics“ kennt: Vor seinem Mandat im hessischen Landtag hatte er im thüringischen Wirtschaftsministerium als Referent für Breitbandausbau und Digitalisierung gearbeitet.

„Da ich ansonsten konsequent ÖPNV fahre, habe ich Antennen dafür entwickelt, wo es gut läuft und wo es hakt“, sagt er. Eigentlich kennt er es nicht anders, seit er zur weiterführenden Schule morgens um sieben den Bus von Roßdorf nach Darmstadt hinein nahm. Zuerst Schülerticket, dann Semesterticket, Kaffenberger fühlte sich stets ausgerüstet. „Einen Führerschein besitze ich nicht“, sagt er. „Ich habe Tourette, und mit den Tics hätte man das zwar vielleicht probieren können, ich habe aber nie den Drang dazu gespürt.“ Außerdem: Da war doch immer der Bus, oder die Straßenbahn, der Regionalzug. Später wohnte er als Student im Frankfurter Nordend, „da hat niemand, der bei Sinnen ist, ein Auto“. Mit dem ÖPNV entwickle man eine gewisse Lebensphilosophie, gewinne Gelassenheit. „Verkehr ist ein bisschen Krieg. Wenn also etwas passiert, sitzt man beim ÖPNV im sichersten Fahrzeug.“ Im Bus könne er lesen, arbeiten, Podcasts hören.

Wie groß ist der Raum, der demokratisch denken kann? „Ich laufe jetzt Gefahr, mich unbeliebt zu machen“, antwortet er, „aber was Bürgerbeteiligung angeht, bin ich zurückhaltender geworden. Sie hat große Infrastrukturprojekte nicht unbedingt besser gemacht.“ Diese kriegten zu oft zu harten Gegenwind. „Aber irgendwo muss die Trasse ja gebaut werden.“ Gerade in den halbstädtischen Räumen stecke eine Menge Potenzial. „Man sieht ja am Neun-Euro-Ticket, wie schnell die Leute den Schalter umlegen und auf ÖPNV setzen.“ Wenn sich Kaffenberger in Rage redet, dann spricht er von der „Kleinstaaterei der Verkehrsverbünde“, vom „Tarifdschungel“.

Kaffenberger streitet für gleiche Chancen für alle – in Verkehr, Digitalisierung, Bildung. Als Schüler durchbrach er Bildungsgrenzen, heute stört er sich an anderen. „Zum Landtag in Wiesbaden fahre ich mit dem Zug, der von Aschaffenburg in Bayern kommt. Aber außerhalb der Hauptverkehrszeiten gibt es eine geringere Taktung“, sagt er. „Die Bayern sagen, das interessiere sie nicht so.“ So würden Landesgrenzen rasch zu echten Grenzen. „Man kann nicht jemandem eine Verbindung aufzwingen, aber einen gewissen Kooperationszwang sollte es schon geben.“

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WIR MÜSSEN REDEN – UND MACHEN. Wie soll aussehen, was uns umgibt? Andrea Jürges trägt Diskurse darüber in den öffentlichen Raum. Die Vizedirektorin des Deutschen Architekturmuseums über mehr Beteiligung, die Region als Netzwerk und über die Kunst des Kompromisses.

Frau Jürges, ist Frankfurt im Rhein-Main-Gebiet die Spinne im Netz?
Andrea Jürges: Das sehe ich anders: Eine Spinne macht alle, die sich in ihrem Netz verfangen, zur Mahlzeit. Im Rhein-Main-Gebiet befruchtet sich die Region sozusagen selbst. Nehmen wir die Kulturinstitutionen wie Theater oder Zoo: diese besuchen ja nicht nur die Frankfurter, sondern auch die Menschen aus der gesamten Region – und sogar darüber hinaus. Das Rhein-Main-Gebiet ist vielmehr ein Netz mit vielen Mitspielern, die alle einen Teil zur Entwicklung der Region beitragen. Und wir teilen alle dieselben Themen: Wohnen und Arbeiten, Mobilität, Kultur, Naherholung. Frankfurt wäre ohne die Region eine andere Stadt: Nachts hat die Stadt 750.000 Einwohner, tagsüber sind es – in „normalen Zeiten“ - 1,5 Millionen. Und von der Wirtschaftskraft und Zentralität Frankfurts profitiert wiederum auch die Region.

Welche Pendelbewegungen gibt es?
Jürges: Sie führen nicht nur nach Frankfurt hinein. Genauso wohnen z.B. Leute in Frankfurt und arbeiten in Wiesbaden – oder fahren zur Erholung in den Taunus. Es gibt in der Rhein-Main-Region ein Konglomerat verschiedener Bewegungen.

Rücken da Stadt und Land zusammen?
Jürges: Das wünsche ich mir auf jeden Fall. Wir sind eine Wachstumsregion. Dies resultiert in einer deutlichen Nachfrage nach mehr Wohnraum, sowie Gewerbe- und Naherholungsflächen sowie Flächen für die unterschiedlichen Verkehrsmittel – in der gesamten Region. Eine Kooperation der eigenständigen Kommunen ist im Rhein-Main-Gebiet notwendig – wenn auch nicht immer leicht: natürlich sind Bürgermeister:innen ihrer Gemeinde verpflichtet, die sie in ihr Amt gewählt haben. Für mich ergibt sich daraus die Frage wie Mut und Ausdauer FÜR Projekte und Entwicklungen in den Gemeinden, in den Stadtgesellschaften entstehen können.

Wo ist der Mut kleiner – in der Stadt oder auf dem Land?
Jürges: Aus meiner Erfahrung am ehesten dort, wo Sättigung herrscht. Im Rhein-Main-Gebiet gibt es – meines Wissens nach – keine Dörfer, die verlassen werden. Und diesen Zustand des Wohlstands zu erhalten ist ein Wunsch vieler. Das geht meiner Wahrnehmung nach oftmals einher mit einer Skepsis darüber, ob aus den Fehlern der Vergangenheit – hier im speziellen der Großwohnsiedlungen und der autogerechten Stadt – gelernt wurde. In den 1920ern schrieb sich die UIA (Union Internationale des Architectes) „Luft und Licht für alle“ auf die Fahnen – zu Recht: in Großstädten wie Berlin oder Paris lebten viele beengt und dicht gedrängt. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs konnte man auch entsprechend bauen; die Wohnhochhäuser stehen heute noch in fast allen Gemeinden. Heute wissen wir: „nur“ aus einem guten Angebot von Licht und Luft entsteht noch kein gutes Wohngebiet. Andrerseits ist mit einem Einfamilienhaus zum Beispiel ja auch nicht „alles gut“: Auch dort kann es zu Konflikten in der Nachbarschaft kommen. Und dort benötige ich möglicherweise ein eigenes Auto. Darauf kann ich „in der Stadt“ oftmals verzichten.

Und was ist die Lösung?
Jürges: Miteinander verhandeln. Miteinander reden, immer wieder, und zu versuchen einander zu verstehen – die unterschiedlichen Wünsche, Bedürfnisse und Anforderungen. Aber auch, warum Projekte, wie zum Beispiel ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, lange Planungs- und Genehmigungszeiten benötigen.

Und daraus ergibt sich sogleich die Frage wie es einfacher gehen könnte.
Jürges: Grundsätzlich ist die Zustimmung zu mehr Wohnraum oder auch für einen Ausbau des ÖPNV groß. Und gefühlt im nächsten Moment formieren sich Gegenstimmen, zu oft mit „nicht neben mir“ – mit Befürchtungen, dass Neubau oder Ausbau zu einer Verschlechterung des eigenen Wohlstands führen. Dabei können – und sollten - Entwicklungen auch zu Verbesserungen im gesamten Umfeld führen; wenn sie gut geplant sind: Aus landwirtschaftlich genutzten Monokulturen können vielfältige Naherholungsgebiete für alle werden. Oder wie gerade aktuell am Mainkai in Frankfurt: Mit Farbe und einem bunten Programm ist aktuell die – temporäre – Umwandlung eines Verkehrsraums zu einem lebendigen Stadtraum gelungen. Dafür braucht es Mut und Ausdauer auf vielen Ebenen – sowie in der Stadt-/Dorfgemeinschaft.

Wie schafft man es also, alle an einen Tisch zu bringen und dann auch eine Entscheidung hinzukriegen?
Jürges: Wenn ich das wüsste, wäre ich Königin von Deutschland…Scherz beiseite: wir testen hier in Frankfurt als eines von 17 Projekten im Rahmen des „Post Corona Stadt“-Projekts der Nationalen Stadtentwicklungspolitik unterschiedliche Formen der Beteiligung. Wir versuchen mittels Aktionstagen und Reallaboren zukunftsfähige Netzwerke jenseits der „üblichen Verdächtigen“ für eine lebendige und resiliente Innenstadt Frankfurts zu erkunden und zu etablieren. Aktuell rief ein „Open Call for Participation“ auf Großflächenplakaten und mittels Social Media zur Einreichung von Ideen für temporäre „urbane Module“ für das „Wohnzimmer Hauptwache 2022“. Diese urbanen Module konnten baulich, dialogisch und performativ sein: Aus über 50 Einreichungen sind 17 von einer Jury ausgewählt worden, die wir als DAM nun versuchen für September und Oktober zu realisieren. Wir wollen Interesse am Hinsehen und Mitmachen, Mitgestalten wecken.

Lässt sich sowas auf andere Projekte der Raumentwicklung übertragen?
Jürges: Das ist das Ziel. Dafür bedarf es vieler Aufklärung und Beweglichkeit – ich hoffe, dass Corona Dinge möglich macht, die vorher nicht möglich waren.

Was zum Beispiel?
Jürges: Das Bewusstsein, dass man in der Nähe des eigenen Wohnraums Orte zur Erholung und Freiraum braucht. Oder dass nur mehr Straßenraum den Bewohnern nicht hilft. Sondern dass eine gute Gestaltung des Stadtraums entscheidend ist. Es ist ein völlig anderes Leben, wenn auf einmal das Lauteste neben einem nicht der Autoverkehr, sondern der Kinderspielplatz ist.

Schwingt da die Hoffnung mit, dass letzten Endes bei Allen der gute Wille raumgreift?
Jürges: Natürlich habe ich Hoffnung! Man kann durch Gesprächsangebote Dinge in Bewegung setzen.

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EINMAL IN DEN DIGITALEN RAUM UND WIEDER ZURÜCK: In seiner Podcastreihe „Somewhere over the Hay Bale” lässt Fabian Schrader über queeres Leben auf dem Land erzählen. Hier spricht er darüber, warum das so wichtig ist.

„Wenn die Leute mir in meinem Interviewpodcast über queeres Leben auf dem Land – dem ersten deutschsprachigen überhaupt – von ihrer Region erzählen, dann reden sie von Natur, von dem, was sie ihr Zuhause nennen. Ich merke dann immer wieder, wie verwurzelt sie dort sind.

Als schwuler Junge in einem Dorf groß zu werden war nicht immer ganz so easy für mich. Homosexualität und queeres Leben kannte ich fast nur aus dem Fernsehen, es war für mich immer etwas Abstraktes, Fernes. Etwas, was es vor Ort nicht gab und was somit nicht sein konnte. Aber queeres Leben ist auch jenseits der großen Städte existent und vielfältig. Dazu gehören mitunter auch schwierige Zeiten, aber auch jede Menge Engagement vor Ort und Menschen, die sich solidarisch zeigen und für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt einstehen.

In „Somewhere Over The Hay Bale“ interviewe ich Menschen, die im ländlichen Raum leben oder dort groß geworden sind. Ich richte so mehr Licht auf ihre Lebensrealitäten und -entwürfe, Erfahrungen, ihr Engagement und ihre Vorstellungen von Community. Denn das transportierte Bild von queeren wie auch nicht-queeren Medien spricht oft sehr einseitig davon, da wird schnell eine Frontstellung eingenommen. Mir geht es um Verstehen. Ich selbst war nach dem Abitur vom Land weg und nach Berlin gezogen. Dort traf ich queere Kids mit ähnlicher Biografie. Dort hieß es rasch: Ja, es war schwierig. Diese Gespräche befriedig ten mich nicht. Was war denn da? Irgendwann reichte es mir nicht, die Erinnerungen ans Aufwachsen auf dem Land von mir wegzuschieben; damit hielt ich ja auch positive Erfahrungen und schöne Freundschaften künstlich von mir fern – das war die Initialzündung für den Podcast.

In meinen Interviews merke ich, wie zum queeren Leben auf dem Land eine neue Sprachlichkeit gefunden wird. Nicht selten kriege ich das Feedback von Hörern: So habe ich mich auch gefühlt, ohne Worte dafür zu haben. Diese Sprachlichkeit hat auch Platz für Zweifel, für Prozesse, und schafft neue Räume. Wenn zum Beispiel darüber gesprochen wird, dass es an einer Provinzschule nun eine LGBTQ-AG oder im Jugendzentrum ein monatliches queeres Jugendtreffen gibt, dann passiert eine Menge mit dem Raum.

Klar, queere Rechte und Sicherheit haben im ländlichen Raum zugenommen. Sie werden auch aktiv verteidigt. Doch noch immer werden auch Räume geschaffen, die offen LGBTQ-feindlich sind, das geschieht auch in Städten. Im Podcast kommen Aktivist:innen zu Wort: Sie organisieren in ihrem Dorf eine Pride-Parade, oder sie bringen im Ortsrat eine Resolution für Vielfalt ein. Aber es gibt auch die Geschichte von Torge, der*die in Thüringen CSDs organisiert und dafür Gewaltdrohungen erhält. Positive Veränderungen beginnen im Kleinen. Wie bei Lea*, wie sie im Heimatort eine Anlaufstelle für queeres Leben schuf, in eine Bar ging und den Gastronomen fragte, ob sich die Gruppe dort mal treffen könne – das fand er super, und schon war der Raum für „mehr“ geteilt. Auch die Geschichte von Malte bleibt mir in Erinnerung: Der schrieb mir, dass er es cool fände, wenn ich eine queere Person aus der Landwirtschaft interviewen würde – auf dem Viehhof seiner Eltern und Großeltern, wo er lebt. Dieser Podcast ging wie ein Lauffeuer durch den Ort – Malte erhielt eine krass positive Resonanz; einmal ging auf einer Party jemand auf ihn zu und sagte: Du bist doch der vom Podcast, kann ich mal mit dir reden? Ich habe da ein paar Fragen…

All dies normalisiert im ländlichen Raum nicht nur queeres Leben ein Stück weit, sondern schafft auch ein Bewusstsein für die Vielfalt von Lebensrealitäten. Räume werden so sicherer: Physisch, indem ich schlicht nichts mehr auf die Schnauze kriege, und dass ich beim Outen nicht meinen Job verliere, aus dem Fußballverein gemobbt werde. Nach vielen Gesprächen denke ich im Nachhinein: Ich hätte mich auch früher outen können, aber damals fühlte es sich eben nicht sicher an. Auch in den Dörfern sind Bewusstseins- und Akzeptanzprozesse in vollem Gang, die vielleicht nicht die komplette Checkliste von akademisierten Queerdiskursen durchgehen, aber in ihrem Tempo vorgehen. Die Uhren sind nicht stehengeblieben. Sie ticken nur anders.

Im Schatten dieser Multicodiertheit kann der städtische Raum vom ländlichen lernen, etwa dass queeres Leben nicht nur in Subkulturen stattfinden muss, dass es nicht nur um Bars & Clubs geht. Und auf dem Land hat vieles einen Pioniercharakter, da legen Leute los, wenn sie nichts vorfinden; in der Stadt gibt es wegen der Fülle der Angebote oft weniger Bedarf an diesem „Unternehmungstum“. Aber es wäre schön, wenn man sich dort weniger ausruhte and mehr nach Do-it-yourself vorginge.“

  

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EIN ÖRTCHEN IN SÜDHESSEN holt die Metropolen zu sich und bringt die Provinz zu ihnen – Paul David Rollmann und eine Tasche voller Ideen für seine Heimat.

Nach Groß-Umstadt kommt Klein-Umstadt, das leuchtet ein. Sanft steigen die Felder in Wellen an und ab, auf ihnen wächst Weizen oder Wein. Auf der Straße tummeln sich viele Autos mit Kennzeichen aus Frankfurt und Darmstadt. Im Maisfeld raschelt lediglich der Wind. Doch da schreckt ein Beat aus der Ferne auf, dumpf und sanft zugleich rollt er an. Der Westbrise folgend, öffnet sich langsam ein Ort: Nach Klein-Umstadt kommt Kleestadt, und in Kleestadt mit seinen 1442 Einwohnern gibt es täglich frische Taschen. So steht es jedenfalls auf einem blauen Schild am Straßenrand. Und darunter: „Made in Kleestadt. High Quality – handmade – recycled.“

Im Hof steht ein Gebäude mit großen Fenstern – die ehemalige Schule. Auf den Tischen halten zehn Nähmaschinen wie aus einer alten Welt ein Zwiegespräch mit der Elektro-, besser: House-Musik, die aus Lautsprechern wabert. An der Kasse hockt ein Mann mit Basecap, er beratschlagt sich mit zwei Freunden. „Und wenn wir die Kabel abseilen?", fragt er. Paul David Rollmann (48), DJ, Musikproduzent und Gründer von Airbag Craftworks, plant gerade den Sommer-Lagerverkauf: selbst designte Shirts, Hosen und Jacken – und Taschen, aus ausrangierten Luftmatratzen genäht, die den Erfolg der Modemarke vor 25 Jahren begründeten. „Ich bastelte viel, betrieb schon fast autistisches Recyceln“, sagt er, „wollte ausgediente Gegenstände umfunktionieren – ihr Leben verlängern.“ Seit den späten Neunzigern hat er das Gebäude angemietet, von seinem Vater und seinem Onkel, die hier früher im Ort für eine große deutsche Herrenmodemarke gefertigt hatten.

Was ist aus ihnen geworden?
Paul David Rollmann: Damals gelang ihnen der Sprung raus aus der Kleinschneiderei und rein in die kleinindustrielle Fertigung: mehr Arbeitsteilung und Optimierung. Das war eine Kurve, die steil nach oben ging, aber dann ihr Ende fand. Der Auftraggeber verlagerte die Produktion ins Ausland, weil sich Hosen nicht mehr in Deutschland lohnen; die Kosten wurden ihm zu hoch. Ich lernte noch Schneider im elterlichen Betrieb. Aber ich spürte: Das geht in Deutschland so nicht mehr lange gut.

Eine Uhr im Nähsaal zeigt 10:23 Uhr, dabei ist es später Nachmittag. Sie steht seit 1995 still, als man die Hosenproduktion einstellte. Zwei Stockwerke weiter unten, im Chillout-Room des „Bunka“, eine Art Privat-Musik-Club, liegt die erste Airbag-Tasche aus jener blau-orangenen Matratze, die dort früher defekt gelegen hatte. Rollmann suchte 1995 eine Verpackung für seine Vinyl-Maxis. Schneiderei und Musik, das waren für ihn stets zwei Seiten seiner Kreativität. „In der elektronischen Musik Anfang der Neunziger war alles frisch, immer gab es Neues“, sagt er.

Was machte das mit Kleestadt?
Rollmann: DJs kamen aus anderen Städten und legten bei uns auf, ich wurde eingeladen, woanders aufzulegen. Dorfkids, Raver und Skater kamen sich so näher. Musik war ein verbindendes Element, nicht nur in die Städte, sondern wie bei einem Koordinatensystem mit vielen Punkten – kreuz und quer. Aus der Aufgewühltheit der Neunziger ist dieses Netzwerk entstanden.

Also gibt es auch einen Strom aus der Stadt aufs Land?
Rollmann: Hierhin kommen Leute zu Besuch, die sich mit dem Stadtleben zufriedengegeben hätten, aber auch auf dem Dorf Input finden. Da fließen Umsätze und Energien in beide Richtungen.

Im Verkaufsraum oben begutachten zwei Kleestädterinnen in Sommerkleidern eine Reihe Taschen. „Ich hab ja schon zwei“, murmelt die eine. Airbag Craftworks ver kauft seine Produkte aus dieser Schule heraus mit weltweitem Erfolg – eine Marke aus der Provinz, die auch in der Metropole funktioniert. Am nördlichen Rand des Odenwaldes gelegen, war „Kläscht“, wie der Ort im Dialekt heißt, ein intakter Mikrokosmos. Heute bettet er sich ein in eine Region aus Dörfern und Städten, die mehr als Einheit zu sehen ist.

Welche Ideen haben sich denn für den Ort über Mode und Musik hinaus gebildet?
Rollmann: Da ist einiges am Köcheln. Dem Ortsbeirat habe ich eine schöne Skateboard-Minirampe vorgeschlagen, das Dorfleben wäre dadurch vor allem auch für Kids und Teenager interessanter – da bleibe ich dran. Wenn alles verschwindet, was es einmal gab, ist das alles andere als attraktiv. In Kleestadt gab es einmal eine Wirtschaft mit Tanzsaal. Die und andere Kneipen haben zugemacht. Tankstelle, Kurzwarenhandlung, Metzgerei, zwei kleine Supermärkte, eine Pizzeria, alles nicht mehr da. Stattdessen nehmen die Discounter außerhalb zu, mit ihren riesigen Parkplätzen. So wird das Dorf zum Wohngebiet. Zum Glück haben wir noch den Bäcker Vogel, die Gastwirtschaft „Zum Lamm“ und den netten Bauernhofladen der Familie Selzer.

Arbeiten Sie an neuen Begegnungsorten?
Rollmann: Weit hergeholt, aber wirksam wäre etwa eine Jazzbar. Die könnte auch Pop-Up-Charakter haben, muss also nicht jeden Tag geöffnet sein. Im Nachbarort hat jemand einen Hofladen gegründet, freitagnachmittags ist da immer Kaffeekränzchen. Über Crowdfunding hat er Einkaufsgutscheine verkauft, nun läuft das Geschäft. Um unsere Orte am Leben zu erhalten, müssen wir sie verzaubern, sie bewerben und den Leuten bieten, was sie woanders nicht finden; vor allem nicht in den Discountern, die Nicht-Orte sind, völlig austauschbar. Außerdem inspiriert solch eine Unternehmung: Hat der Hofladen Erfolg, kommt jemand vielleicht auf die Idee, Ähnliches mit einer Gastronomie oder einem Weinverkauf zu versuchen.

Gibt es für all dies das richtige Klima?
Rollmann: Es sollte mehr unterstützt werden. Nicht nur für die Natur sollten Schutzgebiete geschaffen werden, sondern für die sozialen Denkmäler, für die Treffpunkte. Für Kleestadt ist auch ein Discounter am Ortsrand in der Diskussion. Ich habe da andere Ideen für die Regionalversorgung entgegengestellt: regionaler Lebensmittelverkauf per Automaten und mehr! Und die könnten auf etwas warten…

…auf was denn?
Rollmann: Kleestadt liegt an mehreren Fahrradrouten. Die Leute fahren immer mehr Rad, vor allem E-Bikes. Ganze Karawanen ziehen bei uns vorbei, und die haben ja Durst. Finden auf der Strecke aber wenig zum Einkehren. Die könnte man ja mal einsammeln!

Er holt einen Papierentwurf hervor.

Das sieht aus wie eine Miniranch mit Biergartenanschluss.
Rollmann: Sagen wir mal, es ist ein leichtfüßiger Diner, mit Photovoltaik auf dem Dach und einer gewissen Offenheit, der an ein Lighthouse erinnert – wo man zum Sonnenuntergang auf einem Deck sitzt. Und dann gibt es einen Bereich, der 24-Stunden-Automaten beherbergt: für Lebensmittel und Getränke. Dazu eine smarte öffentliche Toilette, eine Bar mit regionalen Snacks, gutem Kaffee und E-Fahrradtankstelle. Es ist nicht der ausschließliche Krämerladen – eher auch Begegnungsort, eventuell mit multifunktionalem Workspace, großen Tischen und langen Bänken. Darauf habe ich schon Lust…

Zum Abend hin gehen die Kleestädter aus dem Verkaufsraum hinten eine Metalltreppe zum Garten hinab. Bratwurstduft mischt sich mit dem von Knoblauchbrot, über allem schwebt Musik. DJs aus Manchester und Antwerpen werden später auflegen, aus Frankfurt und Offenbach. An diesem Kläschter Abend stehen alle noch lange beisammen.

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