VON GÖTZ HAMANN
Großstädte sind die Zentren des 21. Jahrhunderts. Sie saugen Talente an, schaffen Wohlstand – und Unfrieden. Doch seit Corona entfacht der ländliche Raum eine neue Sehnsucht. Liegt draußen vor der Stadt nur der neue Garten oder auch eine Chance auf mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Die uralte Beziehung von Stadt und Land lebt vom Streit, wo das Leben besser ist. In Berlin oder am Bodensee? In München oder in Lückendorf? Wo gibt es Arbeit, und wo sollen die Kinder aufwachsen? Welcher Ort bietet mehr Chancen und welcher mehr Freiheit? Kurz gesagt: Wer ist die Schöne und wer das struppige Biest.
Corona hat zuletzt den Blick auf die Großstadt verändert, und damit sind Orte gemeint, in denen mehr als 100.000 Menschen leben. Diese Städte waren auf einmal leer und grau: die Theater und Bühnen geschlossen, die Cafés, Restaurants und all die Geschäfte, die eine große Stadt ausmachen. Auch im Sommer 2022 ist es noch zu spüren, und nicht vergessen, dass die Schleswig-Holsteiner den Hamburgern in der ersten Welle der Pandemie verboten hatten, an die Ostsee zu fahren. Wenig später durften die Hamburger abends nur noch auf die Straße, wenn sie einen Hund besaßen – oder arbeiten gingen.
Die vergangenen Jahre haben insofern eindrucksvoll gezeigt, dass Metropolen in Pandemien zu Hochrisikozonen werden und an Lebensqualität einbüßen. Dem Erfolgsmodell Stadt wurde seine Dichte zum Verhängnis, und mehr Menschen als zuvor entschlossen sich, dieser Enge zu entfliehen – oder sie gleich ganz zu meiden. Immobilienpreise im Umland der großen Städte schnellten nach oben, und noch in 100 Kilometern Entfernung suchten Städter eine Zuflucht oder gleich eine neue Heimat. Das wirkte sich sogar auf jene Gruppe aus, die vor allen anderen in die Städte ziehen: junge Erwachsene vom Land. 2020 sind es deutlich weniger gewesen als in den Jahren und Jahrzehnten zuvor, das belegen Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Landleben ist mithin ganz schön sexy geworden, und das ist etwas, das vor Corona kaum vorstellbar war. Nur wird diese Entwicklung von Dauer sein? Einer der renommiertesten Soziologen im Land, Heinz Bude, hält das für möglich: „Es gibt ein neues Bedürfnis nach Mikro-Heimat, und das zentrale Element der Mikro-Heimat ist das eigene Haus – also etwas sehr Konservatives.“ Aber so etwas können sich viele Menschen eben nur am Stadtrand oder auf dem Land leisten. „In den nächsten 30 Jahren geht es mehr um Schutz und weniger um Freiheit. Deshalb suchen Menschen einen sicheren, überschaubaren Ort“, sagt Bude.
Wie anders wurde noch vor der Pandemie über das weite Land, die Provinz, die periphären Räume gesprochen. Sie galten eher als Krisengebiete denn als Sehnsuchtsorte. Und das hatte und hat noch immer seine Gründe.
Wissensökonomie und Digitalisierung
In den 30 Jahren vor der Pandemie ist der Sog der Städte zusehends gewachsen. Auch politische Entscheidungen spielen eine Rolle, dazu später mehr, aber bedeutender ist die Entstehung der so genannten Wissensökonomie. Für den Wohlstand in den westlichen Industriestaaten sind hoch qualifizierte Dienstleistungsjobs inzwischen zentral. Während die Produktion von Gütern und Waren in großem Stil in andere Teile der Welt verlagert wurde, entstanden in den westlichen Industriestaaten mehr Stellen in der Forschung, im Vertrieb und im Marketing. Die zunehmend globalen Konzerne wollten geführt und verwaltet, finanziert und entwickelt werden, und das geschah eben in den westlichen Großstädten, in München, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg, in Rom und Mailand, Paris und London, New York und San Francisco.
Als dann mit der Jahrtausendwende das Internet die Welt eroberte, bekam diese Wissensökonomie einen nächsten, bis dahin unvorstellbaren Schub. Abertausende von Startups sprossen im Umfeld der besten Universitäten, denn dort wurden nun einmal die Pionierinnen und Pioniere eines neuen Zeitalters ausgebildet. Binnen weniger Jahre entstand eine digitale Infrastruktur, auf deren Grundlage die uns heute bekannten Digitalkonzerne wuchsen. Innovationen und Unternehmen ballten sich stärker denn je, wo ehrgeizige, talentierte Menschen zusammenkamen, also in den urbanen Zentren, und diese neue städtische Elite genoss es, wie sich Kultur und unternehmerisches Genie befruchteten – und dass der Flughafen nah war. In Summe entstand das Gefühl, die Welt stehe vollkommen offen.
Für viele Jahre verstärkten sich diese Vorteile gegenseitig: Ideen, Kapital, geistige und räumliche Mobilität. Nicht zufällig stiegen die Löhne in den Städten in den vergangenen Jahrzehnten schneller als auf dem Land, nicht zufällig wurden so viele junge Unternehmer in kürzester Zeit wohlhabend, und nicht zufällig erzeugen Großstädte heute bereits drei Viertel des globalen Wohlstands (gemessen in Euro und Dollar).
Im Sog dieser Entwicklungen begann auch wieder eine Wanderung von Menschen. Nur noch 14 Prozent der Deutschen leben heute in Dörfern mit weniger als 5000 Einwohnern, 74 Prozent hingegen in der Stadt, und die Zahlen ähneln denen in anderen Gegenden der Welt. Wobei es andernorts mehr echte Metropolen gibt als in Deutschland, Mega-Städte mit zwölf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern wie London und Paris, mit zwanzig Millionen wie New York. Tokyo hat mittlerweile sogar fast vierzig Millionen Einwohner. So droht die Provinz in vielen Teilen der Welt zum Zulieferer von Talenten für die Mega- Cities degradiert zu werden.
Wie lässt sich angesichts dieser Entwicklung das Versprechen liberaler Demokratien halten, dass alle Bürgerinnen und Bürger nicht nur gleiche Rechte haben, sondern zumindest vergleichbare Startchancen? Vielerorts eben nicht mehr, und manchmal haben Regierungen diese Situation noch verschärft, indem sie ihre Industrie-, Wissenschafts- und Infrastrukturpolitik auf die großen Städte konzentriert haben. Es war eine Mischung aus Effizienzdenken und Angst. Die Zentralisierung sollte Geld sparen und zugleich die Chance wahren, in der Wissensökonomie nicht abgehängt zu werden. Frankreich ist dafür ein Beispiel, Österreich und die USA sind es ebenfalls. Selbst in Deutschland gibt es ländliche Räume, deren Aussichten das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung als düster einstuft. Ein Bevölkerungsminus von bis zu 20 Prozent muss die Gegend rund um den Harz aushalten, die Pfalz, die Rhön, das Fichtelgebirge und der Hunsrück, Regionen in Mittel- und Nordhessen – und natürlich in Ostdeutschland. Die Einwohnerzahl wird dort aller Voraussicht nach weiter schrumpfen, ökonomisch droht eine wachsende Kluft zu den Zentren. Aber wie der Professor und Ökonom Stefan Siedentop von der TU Dortmund argumentiert, ist das Phänomen in Deutschland weniger ausgeprägt als in anderen Staaten (siehe Interview).
Die politischen Folgen
Ohne einen direkten und allzu schlichten Zusammenhang herstellen zu wollen: Viele der abgehängten Regionen in Europa und den USA sind in den vergangenen fünfzehn Jahren politisch nach rechts gedriftet. Populistische und rechte Parteien haben dort Erfolge feiern können. Parolen, die gegen die städtischen Eliten und ihren Lebensstil gerichtet waren, fanden Gehör.
Das jüngste Beispiel dafür ist Frankreich: Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen April kam die rechtspopulistische Marine Le Pen auf 42 Prozent der Stimmen, und sie dankte nach der Wahl ausdrücklich den Bürgerinnen und Bürgern „auf dem Land und in den Überseegebieten“. Denn jenseits der französischen Städte stimmte die Mehrheit oft für die rechte Kandidatin – und gegen Amtsinhaber Emmanuel Macron. Dabei wird Frankreich nicht zuletzt seine politisch gewollte, industrielle Monostruktur zum Verhängnis. Alle Forschung, Entwicklung und die Förderung von Konzernen konzentrieren sich auf Paris, Lyon und die Region am Mittelmeer. Nur eine Partei kümmerte sich zuletzt um die abgehängten Regionen und weiß genau, welcher Betrieb schließen musste und welcher regionale Käse verschwunden ist: der Front National von Marine Le Pen.
Das Global Village
Die Menschen sind sich letztlich auf eine erstaunliche Weise nah gerückt, und zugleich haben sie sich voneinander entfernt. In jedem noch so abgelegenen Dorf können wir das Weltgeschehen in Echtzeit verfolgen, das Leben der Influencer und Stars, die neuesten Trends in den Megacities. Aber als der Medienphilosoph Marshall McLuhan in den 1960er Jahren prophezeite, die Welt werde zusammenwachsen und zu einem „globalen Dorf“, hatte er etwas anderes gemeint. Er hoffte, dank Vernetzung stünde die ganze Welt in einem stetigen Austausch miteinander, sodass nebensächlich wäre, wo ein Mensch lebt. Jeder könne Teil einer globalen Weltgesellschaft werden. Doch die Realität ist heute eine andere, und der Politologe und Publizist Mark Leonard ist inzwischen sogar überzeugt, dass die Tatsache, wie viel wir voneinander mitbekommen, zu mehr Konflikten, mehr Neid und mehr Minderwertigkeitsgefühlen führt. Dass uns die technische Verbundenheit in eine Zeit des Unfriedens führt, eine Era of Unpeace, so hat er sein jüngstes Buch betitelt. Dazu kommt das beschriebene, tatsächliche Chancengefälle innerhalb einzelner Länder zwischen wachstumsstarken Großstädten und abgelegenen Landstrichen.
Doch haben sich, und das ist eine gute Nachricht, in den vergangenen Jahren neue Pionierinnen und Pioniere aufgemacht, eine starke, eigenständige Vision für das Leben und Arbeiten auf dem Land zu entwickeln. Sie denken ein Global Village anders: digital vernetzt, aber mit einem ja zu Dorf- und Kleinstadtgemeinschaften in Brandenburg und Hessen, im Hinterland der Küsten und in den Mittelgebirgen. Es eint sie die Hoffnung, die digitale Infrastruktur sei nun weit genug verbreitet, nun sei die Zeit gekommen, dass die Digitalisierung auch für mehr Chancen im ländlichen Raum sorgt.
Sie sagen: Städte machen gerade einmal zwei Prozent der Erdoberfläche aus. Welches unentdeckte Potential liegt in den anderen 98 Prozent?
Corona hat ihre Ideen einem groß angelegten Test unterzogen. Hunderttausende Angestellte und Freiberufler, die in der Wissensökonomie arbeiten, haben festgestellt, dass sie inzwischen auch recht weit außerhalb einer Großstadt leben und dennoch ihrem Beruf nachgehen können. Ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wiederum haben erlebt, dass die Produktivität nicht unbedingt leidet, wenn Menschen nur teilweise im Büro arbeiten, dass es sogar die anstrengendste Phase im Arbeitsleben erleichtern kann, wenn es gilt, Beruf und kleine Kinder zu vereinbaren.
Wenn man so will, hat also die Pandemie die Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land neu entfacht und den millionenfachen Beweis erbracht, wie oft es möglich ist.
Nun gilt es zu sehen, ob die in der Krise entstandenen Routinen zu einem New Normal werden – ob sich die Mobilität, die Arbeitsprozesse und das Verhältnis von Städten und ihrem erweiterten Umland also tatsächlich nachhaltig verändern.
Vielleicht bergen diese neuen Erfahrungen einige Antworten auf die soziale, kulturelle und politische Entfremdung, die in den vergangenen Jahren vielerorts zu beobachten war. Und vielleicht entstehen in diesem Zuge neue Mobilitätssysteme und nachhaltigere Lebensweisen. Am Ende beantworten wir vielleicht sogar die Frage neu, wo die Stadt endet und das Land beginnt – und umgekehrt.
Bild: ©DIE ZEIT
Über den Autor:
Seine Leidenschaft gilt dem digitalen Wandel, und wie er auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wirkt: Götz Hammann ist bei der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ verantwortlich für die digitale Edition (ZEIT App), zuvor war er nach Stationen bei der FAZ und der FTD Redakteur und stellvertretender Ressortleiter im Wirtschaftsressort der ZEIT. Der gebürtige Lüdenscheider wurde mehrfach mit Journalisten-Preisen ausgezeichnet und berät das Bucerius Lab der ZEIT-Stiftung.
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