Vie Studio/Pexels/Paul Meerkamp

Stadt und Land: gleichwertig, polarisiert, vielfältig

Eine neue Studie im Auftrag der ZEIT-Stiftung analysiert den Diskurs über Städte und ländliche Räume.

Abwanderung, Lohnunterschiede, geringes Vertrauen in staatliche Strukturen – die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Städten und ländlichen Regionen zu erreichen, ist für Politik und Zivilgesellschaft gleichermaßen eine Herausforderung. Den Stand der wissenschaftlichen Diskussion rund um das Thema fasst eine heute erschienene Studie im Auftrag des Bucerius Labs, dem Zukunftslabor der ZEIT-Stiftung, zusammen: Welche Stadt-Land-Unterschiede bestehen? Wie können diese überwunden werden? Und welche Rolle kann die Digitalisierung dabei spielen?

Metastudie Stadt Land_2.png (1.15 MB)

Die neue Metastudie „Stadt und Land: gleichwertig, polarisiert, vielfältig“ (Download) wurde vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund verfasst. Sie nimmt die Beziehungen zwischen städtischen und ländlichen Räumen unter die Lupe und zeigt Ansätze auf, wie räumliche Diskrepanzen reduziert werden könnten: Die Bandbreite reicht von Coworking-Einrichtungen in Dörfern bis hin zur Dezentralisierung von Behörden.

Im Interview erklärt der Autor der Studie Prof. Dr. Stefan Siedentop zentrale Erkenntnisse und gibt einen Einblick, ob und wie sich die Abwanderung aus ländlichen Regionen noch aufhalten lässt.

In Ihrer Studie wird die Idee des „Global Village“ des Philosophen Marshall McLuhan aus den 1960ern erwähnt: Dank Vernetzung wachse die Welt zu einem globalen Dorf zusammen und stehe in ständigem Austausch. Inwiefern ist das schon Realität?

Ich sehe aktuell einen großen Schub, was digital unterstützte Infrastrukturen und digitales Arbeiten in ländlichen Räumen anbetrifft. Da hat aus meiner Sicht die Pandemie auch einiges an positiven Entwicklungen in Gang gesetzt. Wir sehen zugleich aber natürlich nach wie vor Rückstände bei der digitalen Infrastruktur in vielen ländlichen Gebieten. Nach wie vor ist das Breitbandnetz nicht so ausgebaut, wie das eigentlich erforderlich wäre.

Liegt die Herausforderung nur im Ausbau der Infrastruktur?

Nein, wir sehen außerdem ein gewisses Aufholpotenzial bei alternativen Arbeitsformen. Coworking Spaces entstehen jetzt auch in den ländlichen Gebieten, aber erst seit wenigen Jahren. Auch neue gemeinschaftlichen Wohnprojekte würde ich hier nennen, die einen stark genossenschaftlichen und kooperativen Ansatz haben. Das hat alles durchaus ein Potenzial. Aber es sind noch zarte Pflänzchen, die sich bisher nicht in der Breite durchgesetzt haben.

Seit Corona gibt es immer wieder Berichte, dass Menschen überlegen, jetzt aus der Stadt aufs Land zu ziehen. Ist das ein Zeichen dafür, dass ländliche Räume schon jetzt attraktive Alternativen zu Städten sind?

Das ist noch schwierig zu beurteilen. Ich glaube, es ist schon ein Trend. Auf jeden Fall ist es eine große mediale und gesellschaftliche Debatte. Man sieht es auch in den Wanderungsstatistiken, dass sich schon vor Corona ein Trend eingestellt und seitdem verstärkt hat: Ländliche Räume haben an Attraktivität gewonnen. Wir sehen jetzt in den großen Städten durchaus einen Trend, dass mehr Menschen weg- als hinziehen. Das ist eine Entwicklung, über deren Nachhaltigkeit man aber trefflich streiten kann. Da fehlen uns in der Forschung noch die harten Zahlen. Aber dass das ein Momentum hat gerade, das ist unbestritten.

Was ist aus Ihrer Sicht der ländliche Raum?

Wir zählen zum ländlichen Raum nicht im engeren Sinne das Stadtumland. Das ist mit dem urbanen Raum stark verflochten und hervorragend angebunden, sondern eher das weitere Hinterland. Da gibt es große Gefälle: Einerseits Mittelstädte, die eine hervorragende Infrastruktur haben und andererseits Kleinstädte, deren staatliche Strukturen zum Teil in einer prekären Situation sind. Es existiert also eine riesige Spannbreite von unterschiedlich attraktiven räumlichen Settings. Das erklärt, warum es Menschen aus Großstädten nicht gleichermaßen in alle ländlichen Räume zieht.

Was genau hält denn Menschen davon ab, in bestimmte Regionen zu ziehen?

Aus meiner Sicht sind es drei Faktoren: Einer ist natürlich der Arbeitsmarkt. Es hat sich jetzt durch das Homeoffice ein Stück weit gelockert, aber die Nähe zum Arbeitsplatz ist für viele Menschen nach wie vor auch ein Qualitätsmerkmal. Der Zweite ist so etwas wie ein urbanes Lebensgefühl, das viele Menschen verspüren, also eine gewisse Präferenz für die urbanen Infrastrukturangebote, die Kulturangebote, soziale Vielfalt und Internationalität in Städten. Und der Dritte ist der Wohnungsmarkt.

Das Wohnen in Städten ist teuer, das spricht doch eher für das Wohnen auf dem Land?

An sich ist das Wohnen im ländlichen Raum sehr viel preiswerter. Aber es gibt eine Einschränkung: Wir haben in vielen ländlichen Kommunen eine sehr starke Mono-Struktur auf dem Wohnungsmarkt. Das heißt: Es fehlen dort Alternativen zum freistehenden Haus, das vielleicht nicht für alle Lebensphasen und Nutzer:innen attraktiv ist. Eine Forderung aus der Wissenschaft ist es, die Wohnungsmärkte im ländlichen Raum auszudifferenzieren und dort Alternativen zu schaffen zur eigenen Immobilie.

Kann man sagen, dass der Anspruch, gleichwertige Lebensverhältnisse im ganzen Land schaffen zu wollen, womöglich zu ambitioniert ist?

Wenn man dem Missverständnis aufsitzt, dass es wirklich um gleichartige Lebensverhältnisse im materiellen Sinne geht, dann würde ich Ihnen absolut recht geben. Aber das ist eigentlich durch die Politik nie intendiert worden. Es ging immer um so etwas wie Sockel-Gleichwertigkeit, wie wir es in der Studie benannt haben, also die Gewährleistung von Mindeststandards an Möglichkeiten des Arbeitsmarktes, der Infrastruktur, Versorgung. Da ist der Staat in der Pflicht und da ist noch viel zu tun.

Mit Blick auf die Demografie Deutschlands: Kann es auch sinnvoll sein, dass man manche Gegenden aufgibt zugunsten der übrigen Regionen?

Also aufgeben als Strategie würde ich grundsätzlich nicht befürworten. Der Staat darf Menschen und ihre Lebenswelt nicht aufgeben. Es geht eher darum, Menschen, die in solchen sehr peripheren, sehr dünn besiedelten Gegenden leben, alternative Angebote zu machen. Da kann die Digitalisierung eben auch eine ganze Menge an Alternativen schaffen zu konventionellen Angeboten, wie wir sie bisher gekannt haben.

Zum Beispiel?

Telemedizin ist ein super Beispiel, digital unterstützte Mobilitätsangebote oder die digitale Verwaltung. Dann könnten sich Menschen lange Wege zum nächsten Amt sparen und stattdessen über digitale Portale Amtserledigungen von zuhause aus machen. Das ist schon in vielen Regionen im europäischen Ausland Realität, die wir uns auch angesehen haben in der Studie. Es gibt auch Vorreiterkommunen in Deutschland, die da schon sehr weit sind. Es fehl aber noch das „Ausrollen“, das Skalieren in der Fläche.

Welche Rolle kann die Zivilgesellschaft dabei spielen, wenn es darum geht, ländliche Räume attraktiver zu machen?

Die Zivilgesellschaft spielt eine große Rolle, aber sie kann nicht Ersatz sein für staatlichen und kommunalen Rückzug. In den Studien, die wir ausgewertet haben, wird oft beschrieben, dass ein Ko-Design von Staat, Kommune und Zivilgesellschaft erfolgversprechend ist. Das meint: Die Kommunen müssen leistungsfähig sein, personell und finanziell. Und dann? Dann bedarf es eben auch engagierter Bürgerinnen und Bürger, die Ideen einbringen. All das muss zusammenkommen und zusammen gedacht werden.

Gibt es etwas, was Sie rund um das Thema gerne noch weiter untersuchen würden?

Also ich glaube, dieses Durchdringen von ländlichen Lebensweisen durch digitale Technologien ist noch sehr stark unterforscht. Inwiefern hilft die Digitalisierung Menschen, aber auch Verwaltungen von Kommunen, vor Ort?  Da ist erst relativ wenig bekannt an Forschung, die vor Ort die Praktiken der Menschen und kommunalen Akteure stärker im Mittelpunkt rückt.

Herr Siedentop, vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Stefan Siedentop ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Professor an der Fakultät für Raumplanung im Fachgebiet Stadtentwicklung an der TU Dortmund. Der studierte Raumplaner promovierte mit einem umweltplanerischen Thema. Seine Themenschwerpunkte sind die Theorie und Empirie städtischer und stadtregionaler Entwicklung sowie die Instrumente regionalen Wachstumsmanagements in Verdichtungsräumen.