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© Laura Müller/ZEIT STIFTUNG BUCERIUS
Kunst über Ungewissheit und Ungewissheit in der Kunst: Stipendien für Darstellende Künste 2025

Die rasante Entwicklung von künstlicher Intelligenz, der Klimawandel, internationale Kriege und die daraus resultierende ökonomische und politische Verunsicherung – Ungewissheit prägt unsere Gegenwart. Besonders in dieser Zeit bieten darstellenden Künste die Möglichkeit zu experimentieren, Perspektiven aufzuzeigen und komplexe Themen auszuhandeln. Mit ihnen verarbeiten Künstler:innen Zustände und Gefühle, regen zum Austausch an und geben Impulse.

Mit dem zweiten Jahrgang des „Stipendiums für Darstellende Künste“ unterstützen wir als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS deshalb sieben Künstler:innen und Kollektive aus Hamburg und Norddeutschland, die in ihren Arbeiten das Thema „Ungewissheit“ behandeln und durch ihren künstlerischen Ausdruck Freiheiten verteidigen und Orientierung geben. Aus der Vielzahl der Bewerbungen hat die Jury nun die Empfänger:innen der sieben Stipendien ausgewählt:

Wir gratulieren gdem Kollektiv „Die Rote Meierei“, dem Estupefacta Kolektiv, dem Kollektiv „[in]operabilities“, Mark Christoph Klee, Marco Merenda, Mable Preach und Lani Tran-Duc. Mit der Förderung in Höhe von je 10.000 Euro ermöglichen wir den Stipendiat:innen, sich neuen Konzeptionen, künstlerischer Forschung und intensiver Recherche zu widmen und schaffen damit künstlerische Freiräume.

Die Künstler:innen und ihre Projekte: von ungewissen Männlichkeiten und „vielsinnlichem Musizieren“

Das Kollektiv „Die Rote Meierei“ aus Dithmarschen in Schleswig-Holstein besteht aus der Regisseurin Charlotte Pfeifer und dem Musiker Pascal Dominique Fuhlbrügge. Gemeinsam entwickeln sie das Stück „Schwank“, in dem sie politisch rechte Strukturen auf dem Land thematisieren. Dabei verbindet das Kollektiv eine fiktive Handlung mit einem Chor, der Auszüge aus dokumentarischen Interviews wiedergibt. Mit dem Stück wollen Pfeiffer und Fuhlbrügge nicht nur das Publikum im eigenen Heimatort erreichen, sondern die globale Relevanz der Gefahr von rechten Strukturen hervorheben.

Als „Estupefacta Kolektiv“ erhalten Regisseur:in Nora Kühnhold, Performancekünstler:in Noa Noelani und Musikerin Renée Grothkopf das Stipendium für ihre Recherche-Arbeit „Ungeheuer“. Im Rahmen der Recherche forscht das Kollektiv mit Grundschulkindern in Theater-Formaten zu emotional komplexen Erfahrungen. Zartheit, Scham und Ungerechtigkeit sind Erfahrungen, die viele Grundschulkinder stark beschäftigen – oft unausgesprochen oder konfliktgeladen. Ziel ist die Entwicklung eines künstlerischen Konzepts für eine dreijährige Förderung der Behörde für Kultur und Medien Hamburg. Als queeres Kollektiv mit vielen Mitgliedern of Color versteht „Estupefacta“ die eigene Kunst auch als eine politische Auseinandersetzung mit unserer Zeit und sucht nach gesellschaftlich komplexen Fragestellungen.

Das Hamburger Musiktheater-Kollektiv „[in]operabilities“ rund um Jeanne Charlotte Vogt, Leo Hofmann, Franziska Henschel, Athina Lange, Benjamin van Bebber, Carolin Jüngst, Gunda Schröder, Sophia Neises und Susanne Tod hat sich seit 2021 als wichtiger Impulsgeber in Sachen Inklusion im Musiktheater etabliert. Das interdisziplinäre Team aus schwerhörigen, hörenden, sehenden, Blinden und tauben Künstler:innen folgt dem Ansatz des „vielsinnlichen Musizierens“ und lotet die Oper als multimediales Genre neu aus. Im Rahmen des Stipendiums will „[in]operabilities“ mit dem Projekt „Vielsinnlich Musizieren – Aesthetics of Access im Musiktheater“ den Austausch im Team und die Netzwerkarbeit verstetigen sowie die künstlerische Forschung zum vielsinnlichen Musizieren weiterentwickeln. Im Fokus stehen dabei die Verbindung von Audiodeskription, Gebärdensprache und Musik, wie auch die Entwicklung vielsinnlicher Instrumente.

In seinem Rechercheprojekt „Ungewisse Männlichkeit(en)“ setzt sich Mark Christoph Klee mit fragiler männlicher Identität auseinander. Klee ist im Umfeld des Elektrobetriebs seiner Eltern aufgewachsen, wo Männlichkeit durch Stärke, Härte und Schweigen geprägt war. Heute arbeitet er als queerer Tänzer und Choreograf. Zwischen diesen Welten klafft ein Spannungsfeld, das Klee künstlerisch erforscht. Gemeinsam mit Künstler:innen verschiedener Generationen, Herkunft und Gender entwickelt er einen offenen Arbeitsprozess zwischen Gespräch, Bewegung und Performance.

Marco Merenda, deutsch-italienische:r Performancekünstler:in, stellt mit „Breaking up from the world as we know it” eine performative Recherche über Ungewissheit, Abschied und gesellschaftliche Brüche zusammen. Denn indem das Weltgeschehen von wirtschaftlichen, technischen und klimatischen Umbrüchen geprägt ist, wächst das kollektive Gefühl des Kontrollverlusts. Unter anderem Rechtspopulist:innen verkünden hier einfache Lösungen: Das Festhalten an altbekannten Strukturen. Die Recherche widmet sich dem psychopolitischen Mechanismus der Rückkehr ins Vertraute als Reaktion auf Ungewissheit und untersucht, wie Trennung performativ gestaltet werden kann. So entsteht die Grundlage für die partizipative Performance, die im Winter 2025 in Kooperation mit Kampnagel uraufgeführt wird.

Mable Preach, Choreographin aus Hamburg, hat mit „Cartographies of the Unseen – Verhandlungsräume im Nebel“ ein interdisziplinäres Performanceprojekt aus Bewegung, gesprochenem Wort, Klang und gemeinsamen Workshops mit BIPoC-Communities ins Leben gerufen. Ungewissheit wird hier als kreativer Raum verstanden, der die Möglichkeit zum gemeinsamen Infragestellen, Hören, Spüren eröffnet. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie kann Kunst uns helfen, mit Unsicherheit umzugehen – besonders dann, wenn wir gesellschaftlich ständig neu aushandeln müssen, wer wir sind und wohin wir gehören?

Die Hamburger Kostüm- und Bühnenbildnerin Lani Tran-Duc entwickelt im Rahmen des Stipendiums eine begehbare Raum-Audio-Video Installation: „Uncertainty_Invisible Women“. Die Installation basiert auf dem Buch „Invisible Women“ von Caroline Criado Perez. Das Werk widmet sich den Vorurteilen und Diskriminierungen, die in die datengestützten Systeme unserer Gesellschaft eingewoben sind – ob in Ökonomie, dem Gesundheitssystem oder in der Bildung. Männer werden bei Datenerhebungen oft als Norm und Frauen als atypische, von der Norm abweichende Variablen behandelt. Die flexibel einsetzbare Installation soll an verschiedenen Orten inszeniert werden können, beispielsweise in Schulen, im Theaterraum oder im Museum.

Jury: „Ungewissheit ist die Antriebskraft für Kreativität und Veränderung“

Die Expert:innen-Jury setzt sich zusammen aus: Sonja Anders (Intendantin des Thalia Theaters), Matthias Schulze-Kraft (Künstlerischer Leiter des LICHTHOF Theaters), Peter Helling (freier Theaterkritiker u.a. für NDR), Daniel Dominguez Teruel (Musiktheaterregisseur, Stipendiat des Jahrgangs 2024) und Stefanie Jaschke-Lohse (Bereichsleiterin Kunst & Kultur bei der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS).

Die Jury kommentiert ihre Auswahl: „Viele der Künstler:innen betrachten das Leitthema „Ungewissheit“ als einen individuell-emotionalen und gesellschaftlich-politischen Zustand, der nicht nur negativ zu bewerten ist. Vielmehr ist Ungewissheit die Antriebskraft für Kreativität und Veränderung, schafft Freiräume und ermöglicht im Verhandeln von scheinbaren Sicherheiten eine tiefere menschliche Verbindung. Eine große Sorge gilt dem gesellschaftlichen Rechtsruck und populistischen Strömungen, die mit den Ungewissheiten unserer Zeit ihren politischen Deal zu machen suchen – auf Kosten der Freiheit, gerade von diskriminierten Gruppen und Minderheiten, von Vielgestaltigkeit und einer dynamischen, zukunftsgerichteten gesellschaftlichen Entwicklung.“

Die Stipendien für Darstellende Künste wurden 2024 von uns als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS ins Leben gerufen und richten sich an professionell produzierende Künstler:innen sowie künstlerische Kollektive aus allen Bereichen der Freien Darstellenden Künste, die in Hamburg oder Norddeutschland leben und arbeiten. Jedes Stipendium ist mit 10.000 Euro dotiert und kann für eine Vorbereitungs- und Recherchephase sowie für die Fortführung oder Finalisierung eines Projekts genutzt werden. Mehr zu den Stipendien HIER.

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