Miteinander reden statt übereinander – mutig, offen, direkt und durchaus kontrovers, und dabei unterschiedliche Meinungen akzeptieren: Diese Haltung ist Kern und Ziel der Debattenkultur der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS. Umso mehr gilt das für unser Format „Streit & Zuversicht“, das wir zusammen mit Holtzbrinck Berlin seit einem Jahr erfolgreich umsetzen. Nun gastierte die Reihe zum ersten Mal auch in Halle an der Saale und in Rudolstadt im südlichen Thüringen.
Gehen oder bleiben? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen – gerade in ländlichen Orten in den ostdeutschen Ländern. Wenn eine Region vor multiplen Aufgaben steht, ist es dann nachvollziehbar, dass Menschen diese Region verlassen, um anderswo Glück und Sicherheit zu finden? Oder sind gerade die Herausforderungen vor Ort umso mehr Grund, zu bleiben und für eine gute Zukunft vor Ort zu kämpfen? Unter der Leitfrage „Thüringen – bleiben oder gehen?“ haben unsere Panelist:innen und das Publikum im Theater Rudolstadt zu genau diesen Positionen in der November-Ausgabe von „Streit & Zuversicht“ diskutiert.
In Rudolstadt ging es um Zukunftsfragen für viele Menschen in Thüringen. Denn: Seit 1990 hat das Land fast eine halbe Million Einwohner:innen verloren. Viele wandern ab, weil sie wenig Perspektiven für sich sehen; zudem sinkt die Geburtenrate. Der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte liegt mit zehn Prozent weit unter dem Bundesdurchschnitt und kann den Bevölkerungsrückgang nicht aufhalten. Auch die hohen Zustimmungswerte für rechtsextreme Parteien bei den Landtagswahlen verstärken den Trend zur Abwanderung. Wirtschaftsverbände befürchten, dass es nun noch schwieriger wird, Menschen für die Arbeit in Thüringen zu gewinnen.
Dazu diskutierten auf dem Podium die Schülerin Jennifer Kopka, Michaela Blei (Förderverein Schloss Schwarzburg), Falko Smirat (Unternehmer und Mitglied des Stadtrats von Saalfeld) und Elisa Calzolari (MigraNetz Thüringen; der Debattierclub Jena trug die Argumente vor. Moderiert wurde der Abend in Rudolstadt von der Journalistin Valerie Schönian und war eine Kooperation mit der Gemeinschaftsinitiative „Zukunftswege Ost“, der Stiftung Bürger für Bürger, der Partnerschaft für Demokratie Saalfeld-Rudolstadt, der Diakoniestiftung Weimar-Bad Lobenstein und dem Theater Rudolstadt.
Über Hoffnung, Verantwortung und Mitgestaltung
Die Argumente dafür, zu bleiben, kreisten um Verantwortung, Gestaltungswillen und die Überzeugung, dass Veränderung nur von innen heraus gelingen könne. Das Bundesland biete trotz seiner Herausforderungen viel Lebensqualität – gerade für Familien. Die Podiumsteilnehmer:innen sahen vor allem in der aktiven Mitgestaltung vor Ort die Chance, gesellschaftliche Spannungen zu überwinden und demokratische Werte zu stärken, denn, so ein Argument des Debattierclubs Jena: „Dort wo Menschen sind, die Hoffnung haben, ist auch immer Potenzial für Veränderung.“
Michaela Blei, die in ihren Heimatort Schwarzburg zurückgekehrt ist, hob hervor, dass Menschen in einer ländlich geprägten Region aufgrund der überschaubaren Strukturen schneller etwas bewegen könnten als in größeren Städten. Gleichzeitig sprach sie offen darüber, dass junge Menschen oft durch ablehnende Haltungen frustriert wären und es in einer politisch von älteren Wähler:innengruppen dominierten Region schwer hätten, ihre Ideen durchzusetzen. Diese Perspektive unterstrich die Abiturientin Jennifer Kropka: Sie teile mit vielen jungen Menschen ein tiefes Gefühl der Frustration und Resignation. Oftmals hätten sie zwar eine emotionale Bindung zu ihrer Heimat, sähen aber für sich keine Perspektive. Die Panelist:innen waren sich einig, dass sie für sich persönlich ebenfalls eine rote Linie ziehen würden, sollte die Landesregierung in Zukunft von der AfD geführt werden oder sie persönliche Angriffe erleben. Die Entscheidung, Thüringen zu verlassen, sei also keineswegs egoistisch, sondern für viele Menschen vielmehr ein notwendiger Schritt, um sich und ihre Familie zu schützen und unter besseren persönlichen Bedingungen leben zu können.
Selbstschutz und Frust vs. Lösungsvorschläge und Zukunftsperspektiven
Selbstschutz, Perspektivlosigkeit und der Wunsch nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen – das sind für viele entscheidende Faktoren, ihre Heimat zu verlassen. Elisa Calzolari hält einen gesellschaftlichen Wandel für notwendig, der auch von einer Öffnung der Mehrheitsgesellschaft abhänge. Integration und Teilhabe seien Schlüsselprozesse, um Menschen nicht nur zu halten, sondern auch langfristig Perspektiven zu bieten. Im Land zu bleiben, bedeute nicht, sich mit den Missständen abzufinden, sondern für ein besseres Thüringen zu kämpfen.
Sie unterstrich dazu auch die Bedeutung von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, die vor allem marginalisierten Gruppen wie Migrant:innen bessere Möglichkeiten bieten müssten. Der Unternehmer und Politiker Falko Smirat betonte, dass jungen Menschen auch viel stärker aufgezeigt werden müsse, wie sie sich nicht nur in die Politik einbringen können, sondern dass sie die Zivilgesellschaft auch selbst mitgestalten könnten. Dies müsse gerade bei jenen jungen Menschen ankommen, die in ihren eigenen Familien mit extremen Ansichten konfrontiert seien.
Preis für Demokratie: Gelder für zivilgesellschaftliches Engagement
Am Ende hat der Kampf für Zusammenhalt und Zukunft aber auch ein Preisschild: Denn eine tragende finanzielle Ausstattung zivilgesellschaftlichen Engagements sei die Grundvoraussetzung, um die Arbeit gegen die wachsende gesellschaftliche Spaltung fortzusetzen, da waren sich die Diskutant:innen einig.
Genau hier setzen wir als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS mit unserem Sonder-Paket für die Demokratie an: Im Herbst 2024 hat unser Kuratorium eine Sonderzahlung in Höhe von einer Million Euro bewilligt, um demokratiestärkende Projekte und zivilgesellschaftliches Engagement noch mehr zu fördern – vor allem in ostdeutschen Ländern. Die Mittel fließen unter anderem in die von uns mitgesteuerte Gemeinschaftsinitiative „Zukunftswege Ost“, die bereits in diesem Jahr mehr als 64 Demokratie-Projekte und Initiativen vor Ort gefördert hat. Auch „Streit & Zuversicht“ ist Teil des Sonderpakets. Damit soll das Format im kommenden Jahr nicht nur fortgeführt werden, sondern weitere Städte bereisen – gerade auch in Ostdeutschland. Für noch mehr demokratiestärkende Debatten vor Ort – mutig, offen und auch mal kontrovers.