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Eine rechtswissenschaftliche Hochschule, so international bekannt und vernetzt wie ihre Vorbilder in England oder den USA, das sollte die Bucerius Law School sein. Aber auch: Ein Projekt, das Stiftungsarbeit spürbar und erlebbar macht – eine Einrichtung, die zeigt, wie Stiftungen in die Zukunft und auf nachfolgende Gesellschaften schauen können, ganz praktisch. Den Blick in diese Zukunft wagte Ende der 1990er-Jahre der damalige Vorstandsvorsitzende der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, Michael Göring. Wenige Jahre zuvor hatte er seinen Posten in Hamburg angetreten, den Prof. Dr. Göring bis 2021 innehatte. Im Herbst 2000 öffnete die Bucerius Law School schließlich ihre Türen für den ersten Jahrgang von Studierenden – eine „Pioniergeneration“, wie Michael Göring heute sagt. Zum 25-jährigen Jubiläum der Hochschule spricht er hier über Chancen und Herausforderungen der Law School, über das Erbe unseres Stifters Gerd Bucerius und darüber, wie Stiftungen mit Einrichtungen wie diesen ein Zeichen für Freiheit in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft setzen.
Herr Göring, Sie haben einmal gesagt, die Gründung der Bucerius Law School sei das „Wichtigste, aber auch das Waghalsigste“, was Sie in Ihrem beruflichen Leben vollbracht haben. Erinnern Sie sich noch an Ihre Gedanken, als Sie auf dem Campus an der Hamburger Jungiusstraße das erste Mal durch die Tür gingen?
Ich dachte: Hoffentlich klappt das alles. Die Bibliothek zum Beispiel war im ersten Jahr in einer Baracke untergebracht, die wir vom Botanischen Institut geerbt hatten. Ich hatte immer Angst, der Boden würde unter der Last der vielen Bücher, die dort plötzlich aufgestellt waren, einbrechen und sich ein Student oder eine Studentin verletzen. Aber dann ging der Umbau ja schnell voran. Es war wunderschön, damals mit den ersten Studierenden ins Gespräch zu kommen. Man merkte: Da tut sich jetzt etwas ganz und gar Neues. Wir haben die richtigen Professorinnen und Professoren, wir haben die richtigen Studierenden.
Heute haben wir eine ganze Bucerius-Welt: Uns als ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, aber auch das Bucerius Kunst Forum, das nur zwei Jahre nach der der Hochschule eröffnet wurde, im Jahr 2002. Lag damals, zum Beginn des Millenniums, ein anderer Gründungsgeist in der Luft?
Ich glaube, es war so – wir waren damals in einer allgemeinen Aufbruchsphase. Das hing mit 1990 zusammen; damit, dass dieses Deutschland wiedervereinigt war, dass plötzlich Energien freigesetzt wurden, die bisher nicht zum Tragen gekommen waren. Es gab durchaus Euphorie für solche Schritte in der Gesellschaft, und ich war der Meinung, dass eine starke Stiftung wie die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS hier zeigen sollte, was eine gemeinnützige Einrichtung in der Bundesrepublik zu leisten in der Lage ist. Mir war aber auch daran gelegen, dass wir das Erbe von Gerd Bucerius würdigen, und deshalb war klar: Wir müssen in einem oder allen der Bereiche tätig sein, die Bucerius abgedeckt hat – er war Jurist, Politiker, Wirtschaftsmann und Stifter. Eine gemeinnützige Law School muss unsere Studierenden also derart kitzeln, dass sie gute Juristen, gute Politiker, gute Aktive im gemeinnützigen Bereich, aber auch gute Wirtschaftsleute werden.
“Dass wir so früh angefangen haben, uns mit Digitalisierung zu beschäftigen, mit Legal Tech, das ist sicher etwas, auf das Gerd Bucerius jetzt mit großem Wohlwollen von seiner Wolke herabschaut und sagt: „Sie haben kapiert, dass eine Hochschule in einem beständigen Prozess ist, den man gestalten muss“. ”
Über Gerd Bucerius hat Professor Dr. Dr. h.c. mult. Karsten Schmidt, Ehrenpräsident der Bucerius Law School, einmal gesagt: „Er war ein wertkonservativer Mensch, hatte gleichzeitig aber die innere Freiheit, seine Umwelt immer wieder aufs Neue zu überraschen. Deshalb passen Law School und Stiftung so gut zu dem Namen Bucerius – Anpassungsfähigkeit, gelebte Gedankenfreiheit, ein lernendes System.“ Was würde Gerd Bucerius wohl heute, 25 Jahre später, zur Hochschule sagen?
Ich glaube, dass er mit der Law School zufrieden wäre. Auch mit der weiteren Entwicklung, die die Hochschule in den letzten Jahren angeschoben hat – mit dieser beständigen Bereitschaft, Neues anzupacken, selbst zu lernen. Dass wir so früh angefangen haben, uns mit Digitalisierung zu beschäftigen, mit Legal Tech, das ist sicher etwas, auf das Gerd Bucerius jetzt mit großem Wohlwollen von seiner Wolke herabschaut und sagt: „Sie haben kapiert, dass eine Hochschule in einem beständigen Prozess ist, den man gestalten muss“. An der Law School haben wir ja den Anspruch, immer einen Schritt voraus zu sein, einen Schritt schneller zu sein als andere, und ich glaube, das würde Bucerius heute sehr gut gefallen.
“Es geht darum, den Studentinnen und Studenten Mittel zur Verfügung zu stellen, um darüber nachzudenken, wie sie in dieser Gesellschaft die Rechtswissenschaft und das Recht gestalten können – etwas für die Gerechtigkeit, die Gewaltenteilung und für „The Rule of Law“ so Wichtiges. ”
Dieser Anspruch wurde schon bei der Gründung deutlich. Sie und Ihre Mitstreiter:innen wollten das Jurastudium in Deutschland revolutionieren, beispielsweise durch weniger Studienabbrüche. Sie wollten gut ausgebildete Jurist:innen mit vielen gesellschaftlichen Positionen hervorbringen, Zugänge für weniger privilegierte Studierende und ein Zentrum für Austausch in Hamburg schaffen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken. Wie gut hat die Hochschule diese Herausforderungen in den letzten 25 Jahren gemeistert?
Die Hochschule hat sich diesen Herausforderungen gestellt – als eine Einrichtung, die in die Stadt hineinwirkt, die Veranstaltungen anbietet, die sich als Teil des gesellschaftlichen urbanen Lebens versteht. Dazu gehört auch die Internationalisierung: Das Jurastudium hat eine international wirksame Aufgabe, auch wenn es im Moment Tendenzen gibt, die Globalisierung wieder zurückzuschrauben. Das war 1997 natürlich ganz anders. Die Ausbildung an der Bucerius Law School sollte eine zeitgemäße, eine dem internationalen Anspruch gerechte Ausbildung sein, die den Kern des Juristischen ins Auge fasst. Es geht darum, den Studentinnen und Studenten Mittel zur Verfügung zu stellen, um darüber nachzudenken, wie sie in dieser Gesellschaft die Rechtswissenschaft und das Recht gestalten können – etwas für die Gerechtigkeit, die Gewaltenteilung und für „The Rule of Law“ so Wichtiges. Es geht dabei um die Gestaltungsfähigkeit, zu erkennen: Wo herrscht Unrecht, wo muss ich handeln, was gibt mir das Gesetz vor? Aber auch: Wo sind die Limits der Gesetze? Das ist der Anspruch für mich an einen guten Juristen: Dass er erkennt, was er managen, aber auch, was er oder sie selbst entwickeln kann. Ich komme aus den Geisteswissenschaften und für mich war der Ansatz, über das, was mir vorgegeben ist, kreativ nachzudenken, immer ein ganz zentraler.
Mit Karsten Schmidt und Hein Kötz, Gründungspräsident der Hochschule, haben wir uns im Ausland informiert, wie Law Schools in den Vereinigten Staaten oder in London arbeiteten und mir wurde deutlich: Es ist wichtig, dass die Hochschule eine kleine Einheit bleibt. Die Studierenden müssen einander kennen, müssen einander fördern und fordern. Es muss ein Gewicht auf Lehre liegen, sodass die Studierenden sehr ernst genommen werden. Das ergab sich auch aus den Gesprächen mit den Praktikern, mit den Wissenschaftlern, mit der Gründungskommission.
Ein weiterer Schwerpunkt lag darin, eine kleine, international ausgerichtete Einrichtung zu schaffen, die es ermöglicht, das Studium zügig und auch wirtschaftsnah zu absolvieren – deshalb das Trimestersystem. Und dann ist da noch mein Lieblingskind – das Studium Generale. Wer an der Bucerius Law School studiert, muss die Gelegenheit haben, sich auch über ganz andere Dinge des Lebens zu informieren. Deshalb haben wir das Jura-Studium einschließlich Studium Generale und Personale so entwickelt, dass deutlich wird: Wir wollen mehr. Zu uns sollen junge Menschen kommen, die denken wollen.
Der derzeitige Präsident der Hochschule, Prof. Dr. Michael Grünberger, sagt passend dazu, das Jubiläum sei „eine Gelegenheit, (…) Zukunftsfragen zu stellen: Welche Art von Jurist:innen brauchen Deutschland und Europa in der Zukunft?“ Wie beantworten Sie diese Frage heute?
Sicherlich braucht es Studierende, die mehr als eine Sprache sprechen, die nicht nur in ihrem Heimatland studiert haben – gerade die nicht-europäischen Länder werden immer wichtiger. Was die Zukunft angeht, finde ich, sind wir auf einem guten Weg – immer unter der Voraussetzung, dass die Bucerius Law School tatsächlich jene jungen Menschen anzieht, die dann später auch gute Staatsexamina machen.
Hinzu kommt für mich die Offenheit für das Neue: Vor acht oder neun Jahren kamen zwei Studierende zu mir, die mir von den IT-Ansprüchen und Erfordernissen in den Rechtswissenschaften erzählten und die schon sehr früh wollten, dass die Stiftung Sondermittel für IT zur Verfügung stellt, um etwas aufzubauen, was dann später Legal Tech wurde. Ich fand es toll, dass das eine Bewegung von Studierenden und Doktoranden war, die merkten: Da tut sich etwas. Die Geschäftsführung der Bucerius Law School war dann sofort dabei.
Ich glaube ebenso, dass wir sehr gut daran tun, uns im Bereich von Diversität auch auf Erstakademiker und Erstakademikerinnen zu konzentrieren. Jemand, der als Erstakademiker zu uns kommt, hat eine ältere Studentin oder einen Absolventen an der Seite, mit dem oder der er das erste Studienjahr gestalten und aufbauen kann, sodass da eine ganz persönliche Partnerschaft entsteht – das halte ich für sehr wesentlich. Diversität im Bereich Equity bedeutet, dass Studierende, die bisher Schwellenangst vor der Hochschule hatten oder eben nicht finanziell durch ihr Elternhaus ermutigt wurden, sich entfalten können. Wenn wir ihnen diese Gelegenheit bieten können, dann tun wir etwas Vernünftiges für junge Menschen und für die Gesellschaft, die solche Kräfte dringend braucht.
“Jemand, der an die Bucerius Law School kommt, sollte eine hohe Kompetenz mitbringen und früh Verantwortung übernommen haben, zum Beispiel in der Schule, in der Gemeinde oder der Familie. Es sollte jemand sein, die Initiativen vorangebracht und sich engagiert hat. Jemand, der sich ausprobiert, mit Illusionen, Träumen und in Taten – solch eine Persönlichkeit brauchen wir. ”
Ein Grundkriterium für die Auswahl der Student:innen an der Law School war schon immer deren vorangehendes Engagement sowie die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und Initiative zu zeigen. In einem zunehmend polarisierten gesellschaftlichen und politischen Klima, wie betrachten Sie das Verhältnis von Engagement und Aktivismus unter Studierenden? Auch, wenn es um die Lage von Wissenschaftsfreiheit geht.
Wir haben immer einen Dreiklang vorangestellt: Jemand, der an die Bucerius Law School kommt, sollte eine hohe Kompetenz mitbringen und früh Verantwortung übernommen haben, zum Beispiel in der Schule, in der Gemeinde oder der Familie. Es sollte jemand sein, die Initiativen vorangebracht und sich engagiert hat. Jemand, der sich ausprobiert, mit Illusionen, Träumen und in Taten – solch eine Persönlichkeit brauchen wir. Die Law School ist die Gründung einer gemeinnützigen Stiftung und natürlich müssen wir uns fragen: Was bedeuten denn Gemeinnützigkeit und Gemeinwohl heute? Es ist nicht das Wohl eines Einzelnen oder einer Gruppe von Aristoi, wie sie sich jetzt in den Vereinigten Staaten nennen, von 12 oder 15 Mogulen der Wirtschaft. Das Gemeinwohl meint, dass Sie und ich und die vielen, die nach uns kommen, sich entfalten, leben, einen Beitrag leisten und in Verantwortung für sich und die Gesellschaft das erreichen können, was die US-amerikanische Verfassung einst in diesen wunderbaren Satz gefasst hat: The pursuit of happiness. Daran sollen wir uns als gesellschaftliche Einrichtung orientieren.
Wo sehen Sie in diesem Auftrag der Bucerius Law School neue Chancen, wo aber auch Herausforderungen?
Manchmal wünsche ich mir, dass wir den Gedanken des Gemeinwohls und der Gemeinnützigkeit noch stärker in die Öffentlichkeit tragen. An der Hochschule sind junge Menschen, die sich um viele Dinge kümmern und die genau wissen, dass sie an einer Hochschule studieren, die ganz wesentlich von einer gemeinnützigen Stiftung errichtet wurde und getragen wird – und dass das eine Verpflichtung für die Gesellschaft ist. Dabei sollte die Person, die sich in einem hochkompetitiven Umfeld wie einer großen Sozietät bewährt, durchaus in der Lage und bereit sein, sich immer wieder in gesellschaftliche Themen, in Wirtschaft und in die politische Gestaltung unseres Landes einzubringen. Ich denke, da kann die Law School noch ein wenig mehr leisten. Es ist gut, dass bereits einige Absolventen und Absolventinnen in die Politik gegangen sind und so wie Gerd Bucerius dessen Überzeugungen treu bleiben, sich gesellschaftlich um dieses Land zu bemühen. Und es gibt so wunderbare Veranstaltungen in der Bucerius Law School, die sich mit Themen wie Freiheit, zum Beispiel Freiheit der Meinung, des Wortes, der Medien beschäftigen. Ich finde es toll, dass wir daran festhalten und Flagge zeigen, was Recht und Freiheit für unser Land bedeuten und was gemeinnützige Ausrichtung für unser Land heißt, wie sie in gesellschaftlicher Verantwortung von einer Stiftung auf einer freiheitlichen privaten Ebene verfolgt wird – ohne parteipolitische Präferenzen.
“Wir leben in einer offenen Gesellschaft, die zum Glück ein großes Gerechtigkeitsgefühl entwickelt hat gegenüber allen Menschen. Stiftungen haben da die immense Aufgabe, Vertreterinnen der Freiheit zu sein. Und wenn wir sehen, dass eine Gesellschaft bedroht wird durch Einschränkungen, dann müssen wir da ein Zeichen setzen für Freiheit in der Wissenschaft, in der Kultur, in der Bildung, im internationalen Miteinander. ”
Nach über 30 Jahren Stiftungsarbeit – wo sehen Sie wiederum Aufgaben für unsere Stiftungsarbeit, auch in Bezug auf die Hochschule?
Ich glaube, gerade in diesen Zeiten, in denen sogar in den USA sehr starke Restriktionen auf Hochschulen, Forschungseinrichtungen und kulturelle Einrichtungen zukommen, ist es unsere Aufgabe, die Fahne der Freiheit hochzuhalten. Das Wissen, das eine Gesellschaft sich nicht durch Restriktionen entwickelt, sondern durch Ausprobieren, durch Neues, durch Trial and Error. Wenn ich mitbekomme, dass auch in einigen Gemeinden in der Bundesrepublik jetzt von ganz bestimmter Seite Fragen gestellt werden wie: „Was soll das Stadttheater eigentlich zeigen? Können wir da nicht ein bisschen mehr Heimatkunst bringen? Was sollen die Inszenierungen mit trans* Menschen?“ Wenn sowas kommt, müssen Stiftungen dagegenhalten. Wir leben in einer offenen Gesellschaft, die zum Glück ein großes Gerechtigkeitsgefühl entwickelt hat gegenüber allen Menschen. Stiftungen haben da die immense Aufgabe, Vertreterinnen der Freiheit zu sein. Und wenn wir sehen, dass eine Gesellschaft bedroht wird durch Einschränkungen, dann müssen wir da ein Zeichen setzen für Freiheit in der Wissenschaft, in der Kultur, in der Bildung, im internationalen Miteinander. Auch indem wir neue Dinge ermöglichen, neue Wege gehen, Weichenstellungen anbieten – also all das, was uns in der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS in all den Jahren ausgezeichnet hat.
Unter #bucerius25 teilen aktuell Professor:innen, Angestellte und aktuelle wie ehemalige Studierende der Bucerius Law School ihre liebsten Erinnerungen und Anekdoten zur Hochschule. Wenn Sie heute noch einen Post verfassen würden, wovon würden Sie erzählen?
Da gibt es eine ganze Menge. Schön fand ich, dass wir im Ruderteam der Law School schnell zwei Vierer hatten, die „Ebelin“ und „Gerd“ hießen. Ich bin selbst früher auf dem Gymnasium gerudert, und mein Traum war immer, dass die Law School einmal bei dem berühmten Rennen auf der Themse dabei ist. Ich habe dem Team gesagt: „Ihr müsst nicht den ersten und auch nicht den zweiten Platz machen, das überlassen wir Eton, Oxford und Cambridge. Aber wenn ihr dabei seid mit dem Vierer „Ebelin“ oder „Gerd“, dann komme ich mit!“ Denn: Der Schlussspurt auf der Themse endet in einem kleinen Dorf namens Goring, am dortigen Goring Lock – passend zu meinem Namen. Da stehe ich dann an der Schleuse, wenn das Team ins Ziel kommt! Dieses Versprechen gilt noch heute.